"Lieber nicht regieren, als schlecht regieren." - stimmen Sie wegen der NATO gegen den Koalitilnsvertrag
Sehr geehrter Herr Birkwald,
Voraussetzung für eine Koalition mit der SPD ist laut Herrn Scholz, dass die Linke sich ohne Einschränkung zur NATO bekennt, also auch zum 2% Ziel. Werden Sie gegen einen Koalitionsvertrag stimmen, der diese Bekenntnisse verlangt, auch wenn dadurch eine Regierungsbeteiligung scheitert? Zum Erreichen des 2%-Ziels muss weiter aufgerüstet werden. Stimmen Sie für die Aufrüstung, um an die Regierung zu kommen? Werden Sie zukünftig gegen einen Militäreinsatz der Bundeswehr stimmen, auch wenn dadurch eine rot-rot-grüne Koalition scheitern würde?
Sehr geehrter Herr B.,
herzlichen Dank für Ihre Frage zur NATO.
Lassen Sie mich Ihre Frage zunächst mit einer Gegenfrage beantworten:
Was hätte die Friedensbewegung gesellschaftlich gewonnen, wenn durch Bekenntnisse wie die von Ihnen eingeforderten bereits vor der Aufnahme von Sondierungsgesprächen oder Koalitionsverhandlungen feststünde, dass ausschließlich Parteien der nächsten Bundesregierung angehörten, die sich - wie Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU, FDP und SPD grundsätzlich zustimmend zum Fortbestand der NATO bekannt haben ?
Im Hinblick auf eventuelle Koalitionsverhandlungen gehe ich davon aus, dass keine der beteiligten Parteien einschließlich Herrn Scholz und seiner SPD ihre Maximalpositionen in diesen Verhandlungen durchsetzen können wird.
So habe ich persönlich den von meiner Gewerkschaft IG Metall in Köln mit initiierten Aufruf „No 2 percent!“ gegen das Zwei-Prozent-Aufrüstungsziel der NATO unterzeichnet.
Dieser Aufruf hat breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Unterstützung gefunden, und ich gehe davon aus, dass diese gesellschaftliche Unterstützung auch bei anderen an möglichen Koalitionsverhandlungen beteiligten Parteien Wirkung zeigen wird, so dass sich die Frage eines von Aufrüstung geprägten Haushaltes im Ergebnis von Koalitionsverhandlungen nicht zwingend so stellen muss, wie Ihre hypothetische Fragestellung suggeriert.
Ohne den Einfluss der LINKEN in möglicherweise bevorstehenden Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen überschätzen zu wollen, teile ich deshalb den in Ihrer Frage angedeuteten fatalistischen Glauben an eine Unveränderlichkeit der herrschenden Verhältnisse ausdrücklich nicht.
Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, auf dem ich als Renten- und Sozialpolitiker kein Experte bin, lehrt die historische Erfahrung, dass die viel zu wenigen wirklichen Fortschritte in Richtung weniger kriegerischer internationaler Beziehungen, völkerrechtlich verbindlicher Abrüstungsverträge oder ziviler Konfliktbeilegung durch prinzipiengeleitete und vom gesellschaftlichen Druck der Friedensbewegungen getragene kluge diplomatische Initiativen, der Aufbau wechselseitigen Vertrauens und die strikte Achtung völkerrechtlicher Grundsätze erreicht werden konnten.
Nach dem desaströsen Ende des Afghanistan-Krieges der NATO, den Forderungen - insbesondere der CDU - nach einer eigenständigen militärischen Handlungsfähigkeit Deutschlands und Europas sowie den jüngsten Verwerfungen um den geplatzten U-Boot-Deal mit Australien zwischen Frankreich und Europa einerseits, den USA und Großbritannien andererseits, deuten sich Entwicklungen an, die ein Zeitfenster für solche klugen diplomatischen Initiativen auch in Richtung Überwindung der NATO eröffnen könnten.
Die gesellschaftliche LINKE und die Friedensbewegung wären aus meiner Sicht schlecht beraten, ließen sie die sich daraus möglicherweise ergebenden Chancen ungeprüft.
Im Übrigen ist die NATO ist Überbleibsel des Kalten Krieges. Mit der Auflösung des Warschauer Paktes (1991) geriet die NATO als kollektives Verteidigungsbündnis in eine Legitimationskrise, denn die Charta von Paris (1990) orientierte eigentlich alle Staaten Europas auf eine „unteilbare“ Sicherheit in Europa. Das hätte ein gemeinsames Sicherheitssystem im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit Einschluss aller ehemaligen Ostblock-Länder, auch Russlands, bedeutet. Den Ausweg fand die NATO, in dem sie ihren Gründungszweck als Verteidigungskollektiv schnell um weitere Aufgaben und Kompetenzen erweiterte. Die Verfolgung ökonomischer Interessen der NATO-Mitgliedsstaaten ist nun auch offiziell fester Bestandteil des sogenannten „erweiterten“ Sicherheitsbegriffs der Allianz, der Auslandseinsätze zu weltweiten („Krisen-“) Interventionen mit oder auch ohne UN-Mandat einschließt. Die NATO ist bestrebt, sich als „System kollektiver Sicherheit“ zu positionieren und die eigentlichen Sicherheitskollektive (UNO und OSZE) zu verdrängen. Hierzu wurden in den 1990er Jahren die Balkan-Kriege genutzt - die OSZE sowie die UNO werden seitdem als vermeintlich ineffiziente Organisationen diskreditiert. Die NATO-Erweiterung bis an die Grenzen Russlands belastete von Beginn an und bis heute das Verhältnis zu Russland, zumal diese Neu-Mitglieder eine Verständigung zwischen Russland und der NATO zu erschweren versuchen.
Die NATO verbucht schon jetzt mit fast 900 Milliarden Dollar mehr als die Hälfte aller globalen Militärausgaben pro Jahr (2016). Bis 2024 sollen sich jedoch die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Staaten noch einmal um insgesamt rund 50 Mrd. Dollar jährlich erhöhen, um dem NATO-Ziel zu entsprechen, dass jedes Land mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in das Militär steckt.
Für DIE LINKE ist diese NATO ein Anachronismus. DIE LINKE will die NATO auflösen und durch ein gesamteuropäisches kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands ersetzen, um auf diese Weise die Grundlagen für gemeinsame Sicherheit und somit für einen nachhaltigen Frieden in Europa zu schaffen. Wir fordern nicht den einseitigen Austritt Deutschland aus der NATO, auch wenn das in jeder Zeitung so falsch steht.
DIE LINKE fordert eine breite gesellschaftliche und parlamentarische Diskussion über das außen-, sicherheits- und friedenspolitische Verständnis Deutschlands. DIE LINKE ist die einzige Partei im Deutschen Bundestag, die einen friedenspolitischen Paradigmenwechsel fordert. Grundlage außen- und sicherheitspolitischer Entscheidungen müssen die UNO-Charta und ein Verständnis von gemeinsamer Sicherheit in Europa, welches die Friedenserhaltung, und nicht gegenseitige Interessendurchsetzung, zum Ziel hat, sein. Grundsätzlich stellt sich für mich durchaus auch die Frage nach der Notwendigkeit eines bedingungslosen Bekenntnisses zu einer Organisation, die, wie es die aktuelle U-Boot-Affäre mal wieder plakativ aufzeigt, innerlich massiv zerstritten ist und von mehreren Mitgliedstaaten regelmäßig in Frage gestellt wird.
Zu Ihrer konkreten Frage: Ich fordere nicht den Austritt Deutschlands aus der NATO und würde diesen auch nicht zur Bedingung für eine Koalition machen. In unserem Partei- und Wahlprogramm steht - wie gesagt - auch nichts von einem Austritt. Allerdings fordert DIE LINKE dort eine Auflösung der NATO und „ihre Ersetzung durch ein kollektives Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands“. Zu dieser Forderung stehe ich. Aber natürlich ist dies eine Forderung, die man nicht sofort und noch dazu alleine aus Deutschland heraus umsetzen kann.
Die sogenannte „Zwei-Prozent-Regel“ ist im eigentlichen Sinn übrigens keine Regel, d.h. gar kein fest vereinbartes Ziel, wie Prof. Dr. Grözinger von der Europa-Universität Flensburg im „Wirtschaftsdienst“ belegt (101. Jahrgang, 2021, Heft 6, S. 409). Es wurde von den USA zwar länger gefordert, aber lange Zeit ohne Erfolg. Erst 2014 ist bei einem NATO-Gipfel vereinbart worden, dass dies eine „Zielmarke“ sei. Allerdings, wie es in einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik heißt, eher weich formuliert: „Das Gipfelkommuniqué fordert, dass die NATO-Mitglieder, die unter dem Zwei-Prozent-Wert liegen, sich in den kommenden 10 Jahren, also bis 2024, auf diesen ‚zubewegen‘ sollen“ (Kamp, 2019). Sich auf eine Marke zuzubewegen ist doch etwas anderes, als diese zu erreichen. Insofern sehe ich hier Verhandlungspotenzial für DIE LINKE, sollte es bei Sondierungsgesprächen zu dieser Frage kommen.
Sehr geehrter Herr B., einem Abstimmungsprozess gehen immer lange Diskussionen voran. Internationale Problemlagen mit potenziellen Kriegsentwicklungen präventiv zu entschärfen, ist oft erfolgreicher und auch ökonomisch sparsamer, als sie später mit Soldaten und Soldatinnen gewinnen zu wollen. Ist zudem in einem Krisengebiet bereits das heimische Militär kostspielig aktiv, ist es politisch fast unmöglich, noch ausreichend Ressourcen für Zivilprojekte zu mobilisieren. Dies habe ich immer als Maßstab für meine Abstimmungsverhalten angewendet und werde dies auch in Zukunft tun.
Das Beispiel Afghanistan mit sehr hohen Ausgaben für militärische Präsenz und relativ geringen für zivilen Aufbau belegt diese These aktuell wieder. Für Deutschland liegen die finanziellen Belastungen des Einsatzes bei 12,2 Mrd. Euro für die Bundeswehr und nur 425 Mio. Euro für humanitäre Hilfe (Tagesschau, 2021). Der Ausgang dieses „Abenteuers“ ist bekannt.
Mit freundlichen und friedlichen Grüßen,
Ihr Matthias W. Birkwald MdB