Frage an Matern von Marschall von Marita S. bezüglich Migration und Aufenthaltsrecht
Guten Tag Herr von Marschall,
können Sie mir erklären, warum Sie diese Woche gegen den Antrag der Grünen gestimmt haben, 5000 besonders schutzbedürftige Menschen aus den Lagern an der griechisch-türkischen Grenze aufzunehmen? Die gängigen Argumente (müssen eine europäische Lösung finden etc.) sind mir bekannt, aber sollte man bei diesem Thema politisches Kalkül und Taktieren nicht zu Gunsten der Menschlichkeit hinten anstellen? Das müsste doch eigentlich auf der Hand liegen. Gerade die Grundwerte ihrer Partei "Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit" sind für mich nicht mit ihrem Wahlverhalten in Einklang zu bringen. "Die CDU ist für jeden offen, der die Würde und Freiheit aller Menschen und die daraus abgeleiteten Grundüberzeugungen unserer Politik bejaht", steht als Selbstverständnis der CDU, wie passt das zusammen? (https://www.cdu.de/artikel/selbstverstaendnis-der-cdu)
Was werden Sie für die (nahe, aber auch ferne) Zukunft machen, damit Menschen, die Hilfe benötigen, Hilfe erhalten? Welche Möglichkeiten haben Sie aktuell, den Menschen an der türkisch-griechischen Grenze zu helfen, als demokratisch gewählter Vertreter der Stadt Freiburg?
Freundliche Grüße, M. S.
Sehr geehrte Frau S.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage über das Onlineportal abgeordnetenwatch.de und Ihre E-Mail vom 07.03.2020, in der Sie die Flüchtlingssituation auf den Ägäischen Inseln und an der türkisch-griechischen Grenze thematisieren. Der Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern aus meinem Wahlkreis ist mir als direktgewählter Bundestagsabgeordneter sehr wichtig, weshalb ich Ihnen gerne im Folgenden auf Ihre Nachricht antworten möchte.
Als der zuständige Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion für die Türkei und Griechenland im Europaausschuss des Deutschen Bundestages beobachte ich die derzeitige Situation im Grenzgebiet der beiden Länder mit großer Sorge. Die humanitäre Lage für viele Flüchtlinge in Nordsyrien, der Türkei und an der Grenze zu Griechenland ist inakzeptabel. Aber die Zuspitzung war erwartbar und hat sich seit Monaten angekündigt. Deshalb muss man deutlich sagen: Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten hätten schon viel früher aktiv werden müssen, um der jetzt eingetretenen Situation vorzubeugen. Nach der Flüchtlingskrise 2015 hat die EU im März 2016 eine Vereinbarung mit der Türkei getroffen, die vorletztes Jahr erneuert wurde, damit die Flüchtlinge in der Türkei Unterstützung finden – das hat funktioniert und die Flüchtlingszahlen sind drastisch gesunken; das Programm ist 2019 ausgelaufen und wurde bislang nicht erneuert. Unterdessen sind in der Türkei knapp fünf Millionen Flüchtlinge, fast vier Millionen aus Syrien und eine Million aus Afghanistan, Pakistan, Iran und zunehmend auch aus Ländern Afrikas. Diese Situation kann die Türkei ohne unsere Unterstützung nicht beherrschen. Es droht eine ganze Generation ohne Perspektive und ausreichende Bildung heranzuwachsen.
Deshalb muss jetzt schnell ein massives und rasch umsetzbares humanitäres Programm für die aus der syrischen Region Idlib geflohenen Menschen auf den Weg gebracht werden; nur so kann noch das Schlimmste verhindert werden. Bundesregierung, EU-Mitgliedsstaaten und EU-Kommission müssen jetzt klar machen, dass sie hierfür ausreichende Mittel bereitstellen werden. Die Gelder müssen vor allem schnell und wirksam eingesetzt werden. Es kommt darauf an, dass wir zusammen mit der türkischen Regierung dafür sorgen, dass Hilfsleistungen, wie etwa humanitäre Hilfe vor Ort sowie eine medizinische Versorgung mit geschultem Personal, möglichst zügig bei den Menschen ankommen. Langwierige Ausschreibungsverfahren und Zuweisung von Geldern nur an Mittlerorganisationen werden der Dringlichkeit der Lage im Moment nicht gerecht. Ziel ist es, die Türkei in die Lage zu versetzen, den Flüchtlingen vor Ort schnellstmöglich zu helfen und sie daran zu hindern, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Außerdem müssen wir insbesondere Griechenland helfen, den Schutz der EU-Außengrenze weiter aufrecht zu halten.
Es gilt aber auch, jetzt eine Sogwirkung zu verhindern, die zu noch schlimmeren Zuständen führen würde. Gleichzeitig müssen die dort lebenden Flüchtlingen eine angemessene Mindestversorgung erhalten. Unser besonderes Augenmerk gilt dabei den Schwächsten und das sind die Kinder. Für diese ist eine europäische Aufnahme aus den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern von EU-Mitgliedstaaten zur Entlastung von Griechenland denkbar. Einen Alleingang von Deutschland halte ich aber für nicht zielführend. Aus diesem Grund befürworte ich, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer sich auf europäischer Ebene hochengagiert für einen Verteilungsschlüssel einsetzt und bilaterale Gespräche mit den Mitgliedstaaten führt. Ebenfalls begrüße ich, dass die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands im zweiten Halbjahr 2020 einen Rahmen für eine Reform des europäischen Asylsystems bilden kann.
Um auch kurzfristig die humanitäre Situation zu verbessern begrüße ich, dass der Koalitionsausschuss, welcher sich aus Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel, Finanzminister Olaf Scholz sowie den Partei- und Fraktionschefs der Regierungskoalition zusammensetzt, bei seinem Treffen am 08.03.2020 beschlossen hat, dass Deutschland in Zusammenarbeit mit weiteren aufnahmebereiten Staaten auf europäischer Ebene einen angemessenen Anteil übernehmen wird. Die Koalition hat sich auf die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen 1000 bis 1500 Kindern aus den Flüchtlingslagern in Griechenland geeinigt. Es handelt sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind. Damit kommt die Koalition dem Aufruf von Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom vergangenen Mittwoch nach, die eine solche Regelung gefordert haben. Auch ich habe mich als Unterzeichner einer gemeinsamen Erklärung für diese Lösung stark gemacht.
Trotz mancher Übereinstimmungen habe ich dem Antrag auf Drucksache 19/16838 sowie den Schlussfolgerungen, unter anderem der Kritik an dem EU-Türkei-Abkommen, nicht zugestimmt. Ohne EU-Türkei-Abkommen würde sich die Situation der Flüchtlinge nicht verbessern, sondern unter anderem dazu führen, dass sich wieder mehr Flüchtlinge in die Hände krimineller Schlepperbanden begeben und die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer antreten.
Der von den Grünen geforderte einseitige, nationale Alleingang mit Übernahme von Kontingenten würde alle europäischen Lösungen erschweren. Dies wäre deshalb der falsche Weg.
Die derzeitige Situation wäre nicht auf uns zugekommen, hätte Europa dem Morden Assads und seiner systematisch geplanten Vertreibung der eigenen Landsleute Einhalt geboten. Wir haben außerdem zugelassen, dass Russland seit Jahren die Bombardierung der syrischen Zivilbevölkerung durch das Assad-Regime aktiv unterstützt und damit die Flüchtlingswellen erst ausgelöst hat. Diese bittere Feststellung muss uns Anlass sein, endlich eine gemeinsame, entschiedene und damit glaubwürdige europäische Außenpolitik auf den Weg zu bringen.
Während Erdogan lange glaubte, in Putin einen starken Partner zu sehen, wendet sich das Blatt nun gegen ihn: Russland ist jetzt Gegner der Türkei. Das bringt auch uns als NATO-Partner in eine heikle Lage. Die Schlussfolgerung muss deshalb lauten, dass wir Russland mit allen nicht-militärischen Mitteln dazu bewegen müssen, nun jede weitere militärische Eskalation zu unterlassen – gleiches gilt für die Türkei. Die EU hat vor allem einen außenpolitischen Hebel: ihre Außenhandels- und Wirtschaftspolitik. Weder die Türkei noch Russland können ohne Zugang zum europäischen Markt erfolgreich sein. Deswegen ist es richtig, dass momentan die Nord Stream 2 Gaspipeline noch nicht fertiggestellt ist. Russland muss wissen, dass wir auch auf andere Energielieferanten zurückgreifen können. Und der Türkei muss klar sein, dass eine von ihr erhoffte Vertiefung der Zollunion mit der EU nicht ohne Gegenleistung möglich sein wird.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Matern von Marschall