Portrait von Marja-Liisa Völlers
Marja-Liisa Völlers
SPD
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Frage von Dr. med. Norman C. •

Wie konnten Sie die Ortskräfte in Afghanistan nur so schändlich im Stich lassen? Angebliche Fehleinschätzung der Lage zeugt von einer beispiellosen Unkenntnis dieses Landes!

Ich schäme mich so sehr.

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Dr. C.,

Es gibt nichts zu beschönigen. Die Bilder und Berichte, die uns seit Mitte August aus Afghanistan erreicht haben, haben uns alle entsetzt und getroffen. Das sind bittere Tage für Deutschland und für die internationale Gemeinschaft. Jegliche Prognosen müssen sich an der Realität messen lassen. Wir müssen feststellen, dass die Prognosen nicht zutreffend waren. Nicht nur wir, sondern auch die internationalen Partnern und zahlreiche Afghanistan-Experten und Expertinnen haben die Lage falsch eingeschätzt.

Für kaum ein anderes Land hat Deutschland in den vergangen zwei Jahrzehnten so große Verantwortung übernommen – militärisch, diplomatischen und entwicklungspolitisch. Zwar haben wir das zentrale Ziel unseres Afghanistan Engagements – die Bekämpfung der von Afghanistan ausgehenden internationalen terroristischen Bedrohung – zumindest vorerst erreicht. Am Aufbau eines funktionierenden Sicherheitssektors und stabiler staatliche Strukturen, die die Lage der Bevölkerung dauerhaft verbessern und Menschenrechte achten, sind wir jedoch gescheitert. Diese Erkenntnis ist bitter und schmerzhaft.

Umso wichtiger ist unser klares Bekenntnis, dass wir Afghanistan und seine Menschen nicht allein lassen. Durch die Luftbrücke von Kabul nach Taschkent und weiter nach Deutschland, welche bis Ende August bestand hatte, konnten wir in wenigen Tagen über 5000 Menschen aus Afghanistan evakuieren. Neben 529 Landsleuten waren darunter über 4000 Afghaninnen und  Afghanen, fast die Hälfte davon Frauen und Mädchen. Zudem konnten wir über 400 Staatsangehöriger aus EU – und weiteren Drittstaaten auf unseren Flügen in Sicherheit bringen, andere Partner wiederum Dutzende Deutsche ausfliegen. Mit der Beendung der militärischen Evakuierungsaktion am 26. August endet unser Engagement damit aber noch lange nicht. Wir bemühen uns weiterhin verbliebene deutsche Staatsangehörige, ehemalige Ortskräfte und andere besonders schutzbedürftige Personen nach Deutschland zu holen. Dies wird alles andere als einfach. Aber wir sind fest dazu entschlossen. Das gebietet unsere Verantwortung für diese Menschen. Außenminister Heiko Maas ist in die Region gereist, um mit den Nachbarländern Tadschikistan, Usbekistan und Pakistan über Hilfsmöglichkeiten zu sprechen. Für Personengruppen, die noch kein Visum haben und mangels deutscher konsularischer Präsenz in Afghanistan auf Erteilung an unseren Auslandsvertretungen in anderen Staaten angewiesen sind, schaffen wir schnelle, unbürokratische Lösungen. Alle Ortskräfte, die seit 2013 für deutsche Stellen gearbeitet haben, können nun berücksichtigt werden. Sie können Gefährdungsanzeigen bei ihren früheren Arbeitgebern stellen und erhalten bei positivem Ergebnis in einem einfachen, beschleunigten Verfahren ein Visum. Auch gegenüber Afghaninnen und Afghanen aus Zivilgesellschaft, Medien, Wissenschaft, Kunst und Kultur, die die Bundesregierung bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion als besonders gefährdet identifiziert hat und denen wir eine Ausreise mit der Bundeswehr in Aussicht gestellt hatten, stehen wir im Wort. Sie sollen von uns eine Aufnahmezusage bekommen, mit der sie bei unserem Botschaften in den Nachbarstaaten schnell und unkompliziert Einreisepapiere für Deutschland erhalten.

Gerade weil sich unter den gefährdeten Personen so viele mutige Menschen finden, die sich für Menschenrechte, freie Meinungsäußerung, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit eingesetzt haben und einsetzen. In dieser Situation gilt es zu handeln, wo immer das möglich ist. Wir wollen für diesen Personenkreis und durch Unterstützung internationaler Organisationen vor allem in der Region schnelle Hilfe leisten. Dazu zählen folgende Maßnahmen:

Mit der Deutschen Akademischen Flüchtlingsinitiative Albert-Einstein (DAFI), die das AA 2021 mit 13 Mio. Euro unterstützt, werden vom UNHCR Bachelor-Stipendien für geflüchtete Menschen in Aufnahmeländern finanziert. Wir werden DAFI mit substantiellen Mitteln für mindestens drei Jahre für die Förderung von afghanischen Studierenden primär in der Region aufstocken. Dies ist mit dem UNHCR bereits aufgenommen worden.

Für die Philipp-Schwartz-Initiative (durchgeführt von der Alexander von Humboldt-Stiftung) für gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und das Hilde-Domin-Programm des DAAD für bedrohte Studierende und Promovierende können wir u.a. mehr Beratungskapazitäten aufbauen, um geeignete gastgebende Institutionen in Deutschland zu finden.

Mit der Martin Roth-Initiative (MRI) für gefährdete Kunst- und Kulturschaffende und der Elisabeth-Selbert-Initiative (ESI), die gefährdeten Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger temporäre Schutzaufenthalte ermöglicht, wurde ein breites Netzwerk an Partnerorganisationen im Bereich „temporary shelter“ geschaffen, das wir für die Realisierung auch kurzfristiger  Aufenthalte zur Überbrückung in der Herkunftsregion nutzbar machen werden. Ein Sondermodul der MRI zur Aufnahme afghanischer Kunst- und Kulturschaffender in das Stipendienprogramm wird es afghanischen Partnerinnen und Partnern ermöglichen, ihre Arbeit fortzusetzen. Ein solches Sondermodul wollen wir auch bei der ESI zur Aufnahme von mehr afghanischen Menschenrechtsverteidigerinnen und Menschenrechtsverteidiger in das Stipendienprogramm vorsehen.

Mit dem Women Peace and Humanitarian Fund (WPHF), sind wir im Rahmen des bestehenden “Rapid Response Windows” im Gespräch über die Schaffung eines gesonderten Afghanistan-Fensters, mit dem wir afghanischen Friedensaktivistinnen und Menschenrechtsverteidigerinnen, die wegen der Taliban das Land verlassen, beim Aufbau einer neuen Existenz unterstützen können.

Für die besonders gefährdete Gruppe von Journalistinnen und Journalisten werden wir gemeinsam mit der Deutschen Welle und anderen Partnerinnen und Partnern aus Verlagen und Verbänden ebenfalls ein geeignetes Programm zur Aufnahme bzw. Unterstützung von afghanischen Journalistinnen und Journalisten in Drittländern vereinbaren. Hier würden wir auch die Möglichkeit vorsehen, Partnerschaften mit internationalen zivilgesellschaftlichen Institutionen einzugehen.

Nicht zuletzt hat Deutschland bereits 100 Million Euro humanitäre Soforthilfe für geflüchtete in und aus Afghanistan zur Verfügung gestellt – weitere 500 Millionen Euro sind eingeplant. Mit diesem Geld sollen internationale Hilfsorganisation unterstützt werden, darunter das VN-Flüchtlingshilfswerk, das Internationale Rote Kreuz so wie das Welternährungsprogramm, um geflüchtete Menschen in Afghanistan und den Nachbarländern zu helfen.

Trotz der dramatischen Situation ist es zu früh, um eine abschließende Beurteilung des Afghanistan-Einsatzes vorzunehmen. Bei der Komplexität und langen Geschichte des Engagements geht es darum, die Geschehnisse und die Ereignisse angemessen aufzuarbeiten. Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion in einem im Juni verabschiedeten Positionspapier deswegen eine Gesamtevaluierung des zivilen, polizeilichen und militärischen Engagements in Afghanistan gefordert. Um unser Handeln zu bewerten und Lehren für die Zukunft zu ziehen, fordern wir dafür die Einsetzung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode.

Wenn Sie noch weitere Fragen oder Anmerkungen zu dem Thema haben, melden Sie sich gerne.

Mit freundlichen Grüßen,

Marja-Liisa Völlers, MdB

 

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