Frage an Marieluise Beck von Ralf O. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Beck,
1) Wie bewerten sie die neue Nuklearstratgie der USA?Ist das nur Abrüstungsgedöns, da nukleare Waffen in unserer heutigen Zeit an Bedeutung verloren und nichtatomare, vor allem nichtmilitärische Bedrohungen zugenommen haben--also eher ein Nebenschauplatz, der überbewertet wird?Bedeutet der neue Passus, dass die USA andere Staaten bei konventionellen, chemischen oder biologischen Angriffen gegen die USA und ihre Verbüdnete nicht atomar zurückschlagen werden, nicht eine gewisse Einladung zu solchen Attacken oder sind die zu erwartenden Reaktionen furchterregend genug, dass es auch keine nukleare Abschreckung mehr braucht?Deutschland scheint blind auf den amerikanischen Atomschirm zu vertrauen und auch in Russland keine potentiellen Gefahren mehr zu sehen. Was aber, wenn ein Schirinowski in Russland an die Macht käme--dann wäre die Nuklearstrategie und amerikanische Atomwaffen wieder sehr zentral, oder?
2) Wie bewerten sie die Bestrebungen Chinas, Japans und Südkoreas eine Ostasiatische Gemeinschaft, eventuell unter Ausschluss der USA gründen zu wollen?Sind die OAG und der neue Asiatische Währungsfonds nicht Zeichen einer verstärkten panasiatischen Kooperation?Wäre dies nützlich für Deutschland/Europa ?
3) Wie verlässlich halten sie die Türkei unter Erdogan noch als NATO-Mitglied?Wäre es für Russland nicht Ziel, die Türkei aus der NATO herauszulösen?Die Neuorientierung der Türkei nach Nahost, der gemeinsame Kooperationsrat mit Syrien, die abgesagten NATO-Manöver Anatolian Eagle, die Äusserungen zu Israel und Sudan, der Vorschlag einen eigen Islamischen Gerichtshof gründen zu wollen--führt dies nicht von der NATO weg? Wie bewerten sie die Gerichtsprozesse gegen die kemalistische Geheimorganistaion Ergenekon in der Türkei--ist dies ein politischer Prozess zur Schwächung des Kemalismus und des Militärs,um einen islamischen Staat zu errichten oder aber ein Schritt hin zu Rechtsstaatlichkeit ?
Mit freundlichen Grüssen
Ralf Ostner
Sehr geehrter Herr Ostner,
ich beantworte ihre Fragen gerne.
zu 1)
Die Bestrebungen des US-Amerikanischen Präsidenten sehen eine Welt ohne Atomwaffen vor, doch ist wohl klar, dass es keine einseitige Abrüstung geben wird. Von Russland geht diesbezüglich auch in Zukunft nicht mehr Gefahr aus, als bisher. Trotz der beschlossenen Abrüstungs-Verträge gibt es immer noch Atomwaffen, die das Leben auf unserem Planeten mehrfach ausradieren könnten. Dies ist wohl immer noch Abschreckung genug. Aber:
Die neue US-Nuklearstrategie markiert einen Wendepunkt. Der garantierte Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen gegen Staaten, die selbst keine Atomwaffen besitzen und sich an den Atomwaffensperrvertrag halten, ist ein wichtiger Schritt, dem nun die gesamte NATO folgen muss.
Die Bundesregierung darf dabei nicht hinterherhinken und muss sich bei den Verhandlungen über eine neue NATO-Strategie entschieden für eine Sicherheitsgarantie gegenüber Nicht-Atomwaffenstaaten einsetzen. Der START-Vertrag kann aber nur der Anfang eines Abrüstungsprozesses sein, dem eine viel stärkere Reduzierung der Atomwaffen, auch im taktischen Bereich, folgen muss. Dabei gilt es, Obama gegenüber den Gegnern der nuklearen Abrüstung in den USA und innerhalb der NATO durch konkrete Vorbereitungen für den Abzug der US-Atomwaffen zu unterstützen. Die Bundesregierung muss endlich den Mut fassen, bei der nuklearen Abrüstung mit Entschlossenheit neue Wege zu gehen.
zu 2)
Bestrebungen, eine Ostasiatische Gemeinschaft zu gründen, befinden sich in einer sehr frühen Phase. Von verschiedenen Seiten wurden immer wieder Vorschläge ins Gespräch gebracht, deren konkrete Umsetzung jedoch unklar ist. Ob sich aus den bestehenden regionalen Kooperationsforen in naher Zukunft ein EU-ähnliches Gebilde entwickeln wird, ist fraglich. Ebenfalls bestehen Zweifel, ob dies überhaupt sinnvoll und beabsichtigt wäre.
Wie ein asiatischer Integrationsprozess zu bewerten wäre, hängt von seiner letztlichen Umsetzung ab. Die VR China könnte ihre dominante Stellung ausbauen, was gerade im Zusammenhang mit dem Anfang 2010 in Kraft getretenen Freihandelsabkommen zwischen China und Asean befürchtet wurde. Andererseits könnte eine kooperative Einbindung Chinas für Ausgleich sorgen und den sinkenden Einfluss Japans sowie der USA in der Region stabilisieren. Dafür spräche, dass gerade Japan ein Verfechter des Integrationsprozesses ist.
Wir Grüne sind überzeugte Europäer und stehen daher Integrationsprozessen positiv gegenüber. Der europäische Integrationsprozess hat gezeigt, dass wechselseitige Einbindung und Kooperation für Frieden und Stabilität sorgen können. Auch die Foren Asean und Asean+3 (Asean mit China, Japan und Südkorea) gelten hier als Positivbeispiele.
Würde ein darüber hinaus gehender asiatischer Integrationsprozess für mehr Stabilität in der Region sorgen, so wäre dies auch in Deutschlands und Europas Interesse.
Dass es in Wirtschafts- und Währungsfragen zu erheblichen Kräfteverschiebungen nach Asien kommen wird, ist ein Prozess, der ohnehin im Gange ist. Dass die Bildung einer Ostasiatischen Gemeinschaft ihn beschleunigen würde ist nicht zwingend, sie könnte ihn jedoch berechenbarerer machen.
zu 3)
Die Vertragstreue der Türkei gegenüber der Nato kann nur anhand der Bündnisverpflichtungen geprüft und bewertet werden. Die Spekulationen, dass Russland das Ziel hätte, die Türkei aus der Nato heruaszulösen, lassen sich nicht anhand einiger außenpolitischen Neuorientierung der Türkei nicht hinreichend belegen. Die Nato sollte selbst das größte Interesse daran haben, dass seine Mitgliedsländer keine Probleme mit ihren Nachbarländern haben. In diesem Sinne ist die Entspannungspolitik der Türkei mit Russland und Syrien sogar positiv.
Vom Vorschlag der Gründung eines Islamischen Gerichthofs ist nicht viel zu halten, weil ein internationaler Gerichtshof die Unterstützung der meisten Länder der internationalen Gemeinschaft haben muss. Er hätte also keine Chance, international wirksam zu werden.
Die Gerichtsprozesse in der Sache "Ergenekon" sollten transparent und seriös fortgeführt werden. Dass die politischen Parteien in der Türkei daraus politisches Kapital schlagen wollen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Viele der Angeklagten in einem Sumpf von organisierter Kriminalität und Staatsgewalt jahrelang bequem eingerichtet haben. Dies trocken zu legen, ist eine große Herausforderung für die türkische Justiz und die türkische Gesellschaft.
MfG
Marieluise Beck