Frage an Ludwig Hartmann von Helmut S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Hartmann,
der Stadtrat von München hat einen Beschluss gefasst, der für städtische Einrichtungen gelten soll. Die Mehrheit der Grünen im Münchner Stadtrat hat dem zugestimmt, obwohl der Fraktionsvorsitzende Florian Roth wie auch der Pressesprecher im Vorfeld der Stadtratsentscheidung vor einer Beschädigung der politischen Kultur Münchens warnten und obwohl ein eher kosmetischer als substantieller Änderungsantrag der Grünen von der SPD-CSU-Mehrheit abgelehnt wurde.
Der Münchner Kulturreferent Küppers begründete auf der Basis dieses Beschluss das Verbot einer Veranstaltung, die nichts mit BDS zu tun hatte (es ging um den Film "Broken", in dem die Mauer zwischen Israel und Palästina thematisiert wird) wie folgt:
„dass bei lebensnaher Betrachtung die Diskussionsveranstaltung nicht ohne eine Befassung mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne auskommt, da insbesondere ein zentrales Ziel der BDS-Kampagne der Abriss der Mauer – verbunden mit der Aufforderung, die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes zu beenden – ist“.
Das Verbot wurde in diesem Fall vom Münchner Verwaltungsgericht aufgehoben. Eine andere Veranstaltung zu diesem Stadtratsbeschluss unter dem Thema "Wie schränkt München die Meinungsfreiheit ein" hat die Stadt ebenfalls verboten und in erster Instanz vor dem Verwaltungsgericht obsiegt.
Im Ergebnis bedeutet dies zweierlei: In den von der Stadt München betriebenen oder geförderten Einrichtungen sind Diskussionen zu Nahost verboten. Außerdem ist verboten über den Stadtratsbeschluss selbst zu diskutieren. So jedenfalls interpretiert die Stadt München ihren eigenen Beschluss.
Ich möchte Sie folgendes fragen:
1. Halten Sie diesen Beschluss für richtig? Wenn nein: Was kritisieren Sie daran?
2. Wie schätzen Sie diesen Beschluss im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit grünen und verfassungsrechtlichen Grundsätzen ein?
MfG
H. S.
Sehr geehrter Herr S.,
vielen Dank für Ihre Fragen zum BDS-Beschluss des Münchner Stadtrats.
Unsere Münchner Stadtratsfraktion hatte mit einem Änderungsantrag zu verhindern versucht, dass die bloße Befassung mit der BDS-Kampagne als Ausschlusskriterium für die Überlassung, bzw. Vermietung städtischer Räume gilt. Dafür gab es jedoch bedauerlicherweise keine Mehrheit im Münchner Stadtrat.
In der anschließenden Abstimmung über den gesamten Beschlusstext haben unsere Stadträtinnen und Stadträte in einem schwierigen Abwägungsprozess individuell entschieden, und so teilweise zugestimmt und teilweise angelehnt. Einigen war ein klares Zeichen des Münchner Stadtrats gegen Antisemitismus wichtiger, als das Beharren auf der Streichung einer einzelnen, wenn auch problematischen Formulierung. Andere Stadträt*innen haben sich anders entschieden. Ich habe für beide Positionierungen Respekt und Verständnis. Letztendlich ist es eine kommunalpolitische Gewissensentscheidung eines jeden einzelnen Stadtratsmitglieds.
Einig ist sich unsere Grüne Stadtratsfraktion jedoch darin, dass sie die BDS-Kampagne ablehnt. Sie will nicht, dass in städtischen oder von der Stadt alimentierten Räumlichkeiten für einen Boykott Israels geworben wird. Diese Position unterstütze ich voll und ganz.
Nach unserer Überzeugung hat Israel ein Existenzrecht als jüdischer Nationalstaat. Dies halten wir vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen Geschichte der Verfolgung der Juden, die in dem millionenfachen Massenmord des Holocaust ihren Höhepunkt fand, für eine politisch und moralisch richtige und unabdingbare Schlussfolgerung – gerade für uns Deutsche. Dies gilt unabhängig von der politischen Ausrichtung der jeweiligen israelischen Regierung und deren Handeln.
Zum zweiten lehnen wir Boykottaufrufe gegen Israel ab. Kritik, Aktionen und Proteste gegen die Politik der israelischen Regierung dürfen nicht die systematische Ausgrenzung ignorieren, denen die Juden in Deutschland unter dem Nazi-Regime ausgesetzt waren und die letztlich eine dem Massenmord vorgeschaltete Stufe der Repression gewesen sind. Auch wenn der Boykottaufruf sich gegen Israel richtet und nicht gegen Juden ganz allgemein, kann dieser historische Kontext zumindest in Deutschland nicht einfach ignoriert werden. „Kauft nicht bei Juden!“, dieser antisemitische Imperativ beschwört schlimmste Erinnerungen herauf. Und es ist schwer zu begreifen, wieso „Kauft nicht beim Israeli!“ oder auch: „Mach keine Musik mit dem Israeli!“ bei aufgeklärten, historisch bewussten Deutschen keine Beklemmung hervorruft – ganz gleich wie kritisch man z.B. Herrn Netanjahu und seine Siedlungspolitik betrachten mag. Hier in Deutschland mit seiner höchst problematischen Geschichte der Judenverfolgung und des Holocausts ist es geboten, mit besonderer Sensibilität darauf zu achten, dass politische Reden und Aktionsformen nicht an diese Verfolgung anknüpfen und ihnen beizeiten deutlich zu widersprechen.
Persönlich lehne ich die Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ entschieden ab. Sie zielt auf die Destabilisierung des Staates Israel und kann keine Lösung für den Nahostkonflikt bieten, sondern wird diesen im Gegenteil nur noch mehr anheizen. Der Vorwurf des Antisemitismus ist meiner Meinung nach gerechtfertigt, da sich die Kampagne einseitig, historisch-verzerrt, menschenrechtswidrig und reaktionär gegen den Staat und damit alle Bürger*innen Israels wendet. Äußerungen von Gründern und Sprechern der BDS-Kampagne sprechen dem Staat Israel das Existenzrecht ab. Dagegen müssen wir Grüne uns mit aller Vehemenz zur Wehr setzen. Unser Ziel muss es sein, die bürgerschaftlichen, friedlichen und auf Verständigung und Menschenrechte ausgelegten Institutionen und Kräfte aller Konfliktparteien so gut wie möglich dabei zu unterstützen, eine friedvolle Zukunft für den gesamten Nahen Osten zu erreichen.
Wir Grüne betrachten mit großer Sorge, wie sich die Debatten über den Nahostkonflikt immer mehr verschärfen. Wir halten es daher für unsere Aufgabe, mäßigend einzuwirken, Verständnis für den jeweils anderen Standpunkt zu wecken und Scharfmacherei entgegenzutreten. Denn wie soll im Nahen Osten jemals Frieden einkehren, wenn nicht einmal hier, im friedlichen München, eine Diskussion über den Konflikt möglich ist, die nicht dem anderen jegliche Legitimität abspricht?
Die BDS-Kampagne kann in diesem Sinne nicht befriedend wirken.
Auch haben wir uns als Grüne Landtagsfraktion bereits eindeutig im Parlament positioniert. Am 07.05.2019 haben wir einen Dringlichkeitsantrag mit dem Titel „Antisemitismus und antisemitische Straftaten konsequent bekämpfen“ eingereicht. Neben vielen anderen Punkten fordern wir darin, konsequente Maßnahmen gegen die BDS-Kampagne zu ergreifen und insbesondere entsprechende Veranstaltungen von staatlichen Räumen und Zuschüssen auszuschließen. Das grundgesetzlich geschützte Recht auf freie Meinungsäußerung hat seine Grenzen durch die unantastbare Würde des Menschen.
Ich hoffe Ihre Fragen im gebotenen Umfang beantwortet zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Ludwig Hartmann