Frage an Kirsten Lühmann von Christoph W. bezüglich Recht
Sehr geehrte Frau Lühmann,
diese Woche soll entschieden werden, dass die Bundesländer Kompetenzen aufgrund der Corona-Pandemie abtreten. Dies ist im Grundgesetz nicht vorgesehen. Liest man z.B. bei Wikipedia unter "Förderalismus" nach, findet man Sätze wie "In der Bundesrepublik ist der Föderalismus durch Artikel 20 des Grundgesetzes ein Staatsstrukturprinzip und somit grundlegender Teil des politischen Systems. Die Ewigkeitsklausel legt fest, dass er unabänderlich festgeschrieben ist." oder "Auch keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages und des Bundesrates darf die föderale Struktur und Organisation der Bundesrepublik aufheben."
Wie stehen Sie als Sozialdemokratin diesem - meiner Meinung nach demokratieschädlichen und beängstigenden- Ansatz gegenüber?
Mit freundlichen Grüßen
Christoph Welker
Sehr geehrter Herr Welker,
vielen Dank für Ihre Anfrage! Sie beziehen sich auf die Änderungen am Infektionsschutzgesetz im April 2021, auch bekannt unter dem Begriff „Bundesnotbremse“. Ich muss Ihnen sagen, dass ich die Ihrer Frage innewohnende Einschätzung, dass diese Schutzmaßnahmen den Föderalismus in Deutschland einschränken oder gar gefährden, nicht teile. Folgende Anmerkungen dazu:
Der Bund hat nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Infektionsschutzrecht. Er kann daher die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vollumfänglich gesetzlich regeln, hatte aber bis zur Anpassung im April in weitem Umfang die konkrete Ausgestaltung den Ländern überlassen und hierzu Verordnungsermächtigungen an die Landesregierungen erteilt. Bis zum April 2021 hatten zudem bereits viele zuvor in der Ministerpräsidentenkonferenz getroffene Entscheidungen den Bundesrat passiert und somit auch das Votum der Landesregierungen erhalten.
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes umfasst auch Maßnahmen zum Infektionsschutz in Gemeinschaftseinrichtungen wie Schulen, auch wenn das Schulwesen nach Art. 70 GG in der ausschließlichen Kompetenz der Länder liegt. In Bezug auf die Pandemiebekämpfung wird die Kompetenz für das Schulwesen jedoch von der spezielleren Kompetenz des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG verdrängt. Übt der Bund seine Kompetenz auf dem Gebiet des Infektionsschutzes aus, indem er etwa Maßnahmen zur Schließung von Schulen normiert, so macht er dies nicht mit dem Ziel, das Schulwesen zu regeln. Vielmehr haben die Regelungen das Ziel, Vorschriften in Bezug auf Gemeinschaftseinrichtungen zu treffen, die aufgrund der Zahl sich dort aufhaltenden Personen mit einer erhöhten Infektionsgefahr verbunden sind bzw. sein können. Der Schwerpunkt solcher Maßnahmen liegt somit im Bereich des Infektionsschutzes.
Das Parlament gibt der Bundesregierung mit der „Bundesnotbremse“ auch keinen Blankocheck. Auf Druck der SPD wurde in den Verhandlungen erreicht, dass diese Bundesverordnungen nur mit Zustimmung des Bundestages und Bundesrates erlassen werden können. Das Parlament und auch die Bundesländer haben also bei weiteren Verschärfungen immer das letzte Wort.
Ich hoffe Ihnen mit meiner Antwort die Hintergründe nachvollziehbar näher gebracht zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Kirsten Lühmann