Frage an Kirsten Lühmann von Henrietta S. bezüglich Lobbyismus & Transparenz
Sehr geehrte Frau Lühmann,
Ich habe mir die Frage gestellt, wie wir in Deutschland die Partizipation der Bürger in die Politik verbessern können.
Mir kommt es so vor, als wenn es viele Bereiche in unserer Geselschaft gibt, die sich nicht trauen oder glauben kein Gehör in der Politik zubekommen, ihre Probleme nicht absprechen.
Z. T. Beschleicht mich auch das Gefühl, dass selbst wenn Vereine, Verbände oder einzel Personen etwas Ansprechen, die Kanalisierung in den Bundes- oder Landestag nur mit Informationsverlusten geschieht. (Ähnlich wie bei dem Spiel Stille Post.)
Die Grundlegende Frage dazu ist: Wie entscheiden der Bundestag / Landestag über das Agendasetting des Bundes / der Länder? Und wie kann es passieren, dass wichtige themen wie Infrastruktur der neuen Bundesländer oder der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Großstädten wie Hamburg, Berlin, aber mittlerweile auch in Wolfsburg nicht engagiert und kreativ genug angegangen werden?
(Diese Fragen und Erläuterungen sollen in erster Instandz meine Persönliche Wahrnehmung wiederspiegeln und einen Denkanstoß zur Partizipation in unserer Demokratie sein. Da ich keinen geeigneten Punkt als Thema gefunden habe, ist das Thema Lobbyismus & Tranzparenz gewählt. Ich wünschte mir, dass es einen Punkt wie Partizipation & Kommunikationsverbesserung gäbe)
Mit freundlichen Grüßen
H. S.
Sehr geehrte Frau Schwartz,
über Ihre Frage nach politischen Einflussmöglichkeiten für jeden Bürger und jede Bürgerin habe ich mich riesig gefreut. Ich selbst bin in die Politik ursprünglich nicht etwa über eine besondere Neigung oder Begeisterung über politische Ideen oder charismatische Persönlichkeiten "hineingewachsen", sondern über Probleme in der Kinderbetreuung im privaten Bereich und über den Einsatz für die Rechte von Mitarbeitenden in meiner Tätigkeit als Polizistin – also über die Praxis, Missstände verändern zu wollen. Diesen klassischen Einstieg finde ich bis heute ideal, um sich in unserer Gesellschaft zu engagieren und selbst Einfluss nehmen zu können auf die Dinge, die wir kennen und die uns wichtig sind.
So können wir durch lokale Aktionen, Petitionen und auch durch Mitarbeit in politischen Parteien durchaus gesellschaftliche Probleme auf die politische Agenda setzen.
Wie Sie auch meinem Lebenslauf entnehmen können, ist meine Mitgliedschaft in einer politischen Partei, in meiner SPD, erst der zweite Schritt gewesen, um weiter Einfluss auf die Ausgestaltung meines Umfeldes und meiner Gemeinde zu nehmen. Zuerst habe ich mich in meiner Gewerkschaft eingesetzt, um Veränderungen zu erreichen.
Seit 11 Jahren bin ich nun Bundestagsabgeordnete und erfahre in jeder meiner Bürgersprechstunden, an Infoständen und in vielen Briefen, Telefonaten und E-Mails, wo unseren Mitbürger und Mitbürgerinnen der Schuh drückt und welche Probleme mit bürokratischer Herangehensweise in mancher Verwaltung oft eher erschwert, als gelöst werden.
Früher dachte ich, jeder und jede kann doch über die Mitgliedschaft in einer Partei oder den Kontakt zu Gemeindevertretenden seine oder ihre Probleme ansprechen und im zuständigen Gemeinderat oder Kreistag besprechen. Mittlerweile weiß ich, dass das ein richtiger, aber nicht immer ausreichend erfolgreicher Weg ist, um ein Problem zu lösen.
Noch bis zur für mich sehr bedeutenden ersten SPD-geführten Regierung unter Willy Brandt war die Teilhabe an Entscheidungsprozessen auch in Deutschland überwiegend durch die politischen Vertretenden, damals überwiegend Männer, vom Gemeinderat bis zum Bundestag geprägt:
In den Betrieben wurden zur Interessenvertretung der Mitarbeitenden gegenüber der Leitung Betriebs- und Personalräte gewählt, Gewerkschaften vertraten dann die übergeordneten Ziele wie Arbeitszeitverkürzung, Urlaub etc. und je nach politischer Grundüberzeugung konnte man in eine politische Partei mit der größten Übereinstimmung treten, diese stellte dann Kandidaten und Kandidatinnen auf und wenn alles gut lief, erinnerten sich diese nach der Wahl noch an ihre Versprechen oder waren zumindest auf neue Probleme offen ansprechbar.
Mit Willy Brandt und seinem großen politischen Ziel „mehr Demokratie wagen“ änderte sich dieses starre Ritual. Im gleichen Maße, in dem die Bürger und Bürgerinnen durch bessere Bildungschancen und offenere Informationsmöglichkeiten zu bestimmten Fragen eigenes Wissen sammelten, wollten sie dies nicht mehr nur durch gewählte „Universalisten“ vertreten sehen, sondern selbst direkter mitmischen.
Heute sind die politische Information über Medien und Internet, die Mitwirkung in Bürgerinitiativen oder allgemeiner in den Neuen sozialen Bewegungen zugunsten beispielsweise von Frauenrechten, Umweltschutz und Frieden selbstverständlich geworden.
Dazu zählt auch, wie von Ihnen angesprochen, z.B. die Frage des erschwinglichen Wohnraumes, die Beteiligung an Petitionen, die öffentliche Auseinandersetzung mit Großprojekten (A 39, Alpha-E) oder zu Grundsatzfragen (Flucht, Asylrecht, Grundsicherung), auch durch Demonstrationen oder Streiks. Dies alles sind normal gewordene Beteiligungsmöglichkeiten.
Nehmen wir ihre beiden Beispiele Infrastruktur der neuen Bundesländer oder den Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Auch in der Region Uelzen war noch vor 10 Jahren das Internet in vielen Regionen gar nicht ausgebaut oder viel zu langsam. In einem Ort im Westen des Landkreises konnte ein neu entstandenes Altenheim beispielsweise nicht einmal einen simplen Telefonanschluss bekommen, weil die Vermittlungsstation zu klein war. Selbst in Uelzen im Gewerbegebiet am Funkturm konnte beispielsweise ein Medienmarkt nicht vernünftig mit dem Internet arbeiten, da die Verbindungsleistung nicht ausreichte. Um diesen Missstand zu ändern, gab es von den Parteien, von wirtschaftlichen Lobbygruppen, von Bürgern und Bürgerinnen in „abgehängten“ Ortschaften zahlreiche Initiativen, die bei der Verwaltung des Landkreises Uelzen durchaus auf offene Ohren stießen. Nur mit Hilfe einer breiten Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen aus allen Gemeinden des Landkreises, die mit einem festgelegten Prozentanteil ihre Bereitschaft zur Installation eines Hausanschlusses erklären mussten, wurde der Auftrag zum Ausbau eines flächendeckenden Hochleistungsinternets möglich. Für mich ein tolles Beispiel für gelungene Bürgerbeteiligung.
Bei den galoppierenden Mietpreisen in den Großstädten waren es beispielsweise die Mietervereine, die immer wieder Alarm geschlagen haben. Nicht zu vergessen, war eine sich hart am Rande der Legalität bewegende Hausbesetzer-Bewegung bereits in den 1990er Jahren erfolgreich darin gewesen, auf den Mangel an bezahlbarem Wohnraum hinzuweisen. Vielleicht verspätet, aber mit unseren Initiativen zur Mietpreisbremse und mit weitergehenden Initiativen zur Mietendeckelung und mit Wohnungsbauprogrammen reagiert die Politik auf gesellschaftliche Probleme.
Bürger und Bürgerinnen nehmen es zunehmend selbst in die Hand, sich an der Lösung gesellschaftlicher Fragen zu beteiligen. Als Verkehrspolitikerin begleite ich mit der Autobahn 39 von Wolfsburg nach Lüneburg und mit der Anbindung des Hinterlandes an die Seehäfen (Alpha E) im Schienengüterverkehr zwei prägnante Verkehrsprojekte in unserer Region. Insbesondere bei dem Schienenprojekt gestalten Betroffene und Verbände aktiv mit.
Sie mahnen mehr Mut für kreative Lösungsansätze an - da bin ich ganz bei Ihnen, das sehe ich auch immer öfter. Nur gibt es häufig auf politische Fragen mindestens zwei gegensätzliche Meinungen und die Notwendigkeit, Kompromisse zu schließen.
Waren bei der Autobahn die Mitwirkungsrechte der Bevölkerung noch eher den Planungen der Verkehrsexperten nachgelagert, so wurden nach den Erfahrungen u.a. mit Stuttgart 21 die Gemeinden, Verbände, Bürgerinitiativen bei dem später entwickelten Projekt Alpha E in einem mehrmonatigen Dialogforum bereits frühzeitig in den Trassenfindungsprozess einbezogen.
Trotzdem sind auch dieser Partizipation Grenzen gesetzt! Neben geltenden Gesetzen muss auch immer ein Ausgleich zwischen den Interessen der unterschiedlichen Akteure gefunden werden.
Sie beklagen zurecht, dass aus berechtigten Initiativen von Bürgern und Bürgerinnen bis zum Gesetzgebungsprozess bisweilen (Stille Post) nur noch ein zahnloser Tiger übrig bleibt. Da stimme ich Ihnen zu, dass die Probleme immer abstrakter werden, je höher das Entscheidungsorgan, das Lösungen finden soll. Wir machen im Bundestag daher Anhörungen zu vielen Themen, sind aber wegen der immer größer werdenden Anzahl von Fragen mit Regelungsbedarf gezwungen, Fragen möglichst sinnvoll zu bündeln. Initiativen wie die von Greta Thunberg, die lokal mit einer Ein-Personen-Demo begonnen hat und sich nur Monate später bei den Vereinten Nationen wiederfand zeigen aber auch, dass gute Ideen heute eine echte Chance haben, wenn sich immer mehr Bürger und Bürgerinnen gleichzeitig dafür stark machen. So geht das mit jeder Bürgerinitiative: sich schlau machen, Probleme und Lösungsansätze suchen, Gleichgesinnte finden, politische Gruppen und Parteien als Transporteure und Mitstreitende gewinnen. Unterschriften sammeln….
Dabei bleibt es für Bürger und Bürgerinnen immer schwierig, an seriöse Informationen zu kommen. Sie sollten diese immer hinterfragen und die Originalquelle lesen.
Was bringt die Zukunft? Der gerade beginnende nächste Schritt durch die Entwicklung des Internets und weitgehenden Zugangsmöglichkeiten, ermöglicht sog. E-Partizipation als eine neuartige, breite und gleichzeitig individualistische, zeitlich und örtlich ungebundene Beteiligungsform. Mir ist schon klar, dass dieser Schritt für unsere nachfolgenden Generationen selbstverständlich werden wird, aber nicht jeder und jede heute schon gut damit umgehen kann.
Machen Sie mit! Beteiligen Sie sich an gesellschaftlichen Gruppen (Sport-, Schützen-, Kulturvereine, Tafeln), Bürgerinitiativen, Parteien (ja, immer noch unheimlich wichtig). Sprechen Sie Probleme in Ihrem Umfeld, Ihrer Gemeinde an, schreiben Sie Protestbriefe, fragen Sie Ihren Bürgermeister, Landrat, Abgeordnete… Nur, wer sich nicht beteiligt, darf sich auch nicht beschweren, finde ich.
Mit freundlichen Grüßen
Kirsten Lühmann