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Kirsten Lühmann
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Frage von Jan G. •

Frage an Kirsten Lühmann von Jan G. bezüglich Wirtschaft

Guten Tag Frau Lühmann,

kennen Sie den ESM-Vertrag (Vertrag zum europäischen Stabilitätsmechanismus)? Ich würde mir wünschen, dass Sie Sich damit etwas genauer beschäftigen,

1. Frage: Im Artikel 8 des ESM-Vertrag wird das Grundkapital mit 700 Mrd. Euro festgelegt. Wie setzt sich dieses riesige Stammkapital zusammen und auf welcher Grundlage wurde es errechnet?

2.Frage: Im Artikel 10 „Änderung des Grundkapitals“ „1. Der Gouverneursrat kann Änderungen des Grundkapitals beschließen und Artikel 8 … entsprechend ändern.“ Wie bitte, die 700 Mrd. Euro sind erst der Anfang und der ESM kann beliebig und unbegrenzt nachforder?

3. Frage: Im Artikel 9 „Kapitalabrufe“ steht geschrieben „… Die ESM-Mitglieder sagen hiermit bedingungslos und unwiderruflich zu, bei Anforderungen jeglichem … Kapitalabruf binnen 7 (sieben) Tagen nach Erhalt dieser Aufforderung nachzukommen.“ Finden sich nicht, dass es sehr unverschämt ist, bedingungslos und unwiderruflich irgendeine Forderung, welche wie Artikel 10 zeigt, beliebt hoch sein kann, zu stellen?

4.Frage: Was soll das?
- Artikel 27 „Rechtsstellung des ESM, Immunitäten und Vorrechte“ „2. Der ESM … verfügt über volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit für … das Anstrengen von Gerichts verfahren.“ „3. Der ESM, sein Eigentum, seine Finanzmittel und Vermögenswerte genießen umfassende gerichtliche Immunität…“ „4. Das Eigentum, die Finanzmittel und Vermögenswerte des ESM sind von Zugriff durch Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jede andere Form der Inbesitznahme … durch Regierungshandeln oder auf dem Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzeswege befreit."
- Artikel 30 „Immunität von Personen“ „1. Die Gouverneursratsmitglieder, Direktoren und Stellvertreter und das Personal genießen Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer … Handlungen und Unverletzlichkeit ihrer amtlichen Schriftstücke…“

Ich bin wirklich sehr besorgt um die Zukunft unseres Landes. Der ESM setzt dem Lissabonvertag die Krone auf.

MfG
J.Gulbinat

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Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Gulbinat,

die Entscheidung zur Einrichtung eines dauerhaften europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wie auch zum Fiskalvertrag haben wir uns beileibe nicht leicht gemacht. Alle Vorlagen der Bundesregierung – der Fiskalvertrag, der ESM und die jeweiligen Ratifizierungsgesetze – haben schwierige Rechtsprobleme und ökonomische Fragen aufgeworfen, die unter Wissenschaftlern und Experten nicht einhellig beantwortet werden. Wir haben diese Fragen im Vorfeld der Entscheidung ausführlich beraten.
Die grundsätzliche Frage war: Wollen wir die Finanzierung von Mitgliedstaaten der Euro-Zone allein den Finanz-und Kapitalmärkten überlassen? Oder soll es in Zeiten der Finanzmarktkrise die Möglichkeit geben, dass sich Staaten in einem Notfall auch ohne die Märkte refinanzieren können?
Überzeugung der SPD war schon immer, dass ein demokratischer Rechtsstaat jederzeit in der Lage sein muss, seine Aufgaben auszuüben. Das gilt für Leistungen der sozialen Sicherheit ebenso wie für Polizei, Bildungseinrichtungen, Kommunen und vieles mehr. Wenn ein Staat Schulden aufnimmt, hat er sich diese Mittel grundsätzlich an den Märkten zu beschaffen. Wenn aber Staaten durch Spekulationen oder irrationale Marktentwicklungen so stark in Bedrängnis geraten, dass Banken und Investoren untragbare Zinsen fordern oder ein Land kein Geld mehr erhält, ist das in der Euro-Währungsgemeinschaft nicht hinnehmbar.

Zu den Detailpunkten:

Der ESM soll keine Staatsfinanzierung auf Dauer betreiben und auch keine Risiken vergemeinschaften. Er soll in der Not helfen. Der ESM verfügt als internationale Finanzinstitution über eigene Mittel, die er zu strengen Bedingungen und Auflagen als Darlehen im Rahmen von Hilfsprogrammen, sog. Finanzfazilitäten, vergeben kann. Verantwortlich bleiben die Staaten, die diese Finanzhilfen erhalten. Sie müssen sie mit Zinsen zurückzahlen.
Wir haben daher hohe und strenge parlamentarische Hürden in das ESM-Ausführungsgesetz („ESM-Finanzierungsgesetz“) eingezogen – die die SPD in harten Verhandlungen mit der Regierung erkämpft hat. Die beiden deutschen Vertreter im Gouverneursrat und im Direktorium müssen vor wichtigen Entscheidungen die Zustimmung des Deutschen Bundestages einholen. Gleiches gilt, wenn einem Mitgliedstaat Finanzhilfe gewährt werden und mit dem in Not geratenen Staat eine Vereinbarung über diese Hilfen geschlossen werden soll. In allen diesen Fällen muss der Deutsche Bundestag vorher zustimmen, sonst ist die Bundesregierung gezwungen, in Brüssel abzulehnen. Wenn die Finanzmittel oder das Kapital des ESM erhöht werden sollen (wie in Art. 10 geregelt), bedarf es sogar vorher eines Bundesgesetzes: Gemäß Art. 2 des deutschen Ratifizierungsgesetzes zum ESM muss der Bundesfinanzminister durch Bundesgesetz ermächtigt werden, einer Kapitalerhöhung, aber auch einem neuen ESM-Instrument nach Art. 19 des ESM-Vertrages zuzustimmen. (Zur Kapitalausstattung und Zusammensetzung des Grundkapitals des ESM siehe http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Europa/Stabilisierung_des_Euro/Finanzhilfemechanismen/2012-01-27-esm-anl.pdf?__blob=publicationFile&v=2 ).
Das heißt, vor einer möglichen Entscheidung über die Erhöhung des Grundkapitals muss der Bundestag zustimmen und der deutsche Finanzminister als Mitglied des Gouverneursrats ist an diese Entscheidung gebunden. Da bei einer solchen Abstimmung Einstimmigkeit gefordert ist, würde ein deutsches ‚Nein‘ wie ein Veto wirken und die Aufstockung unmöglich machen.

Artikel 9 des ESM-Vertrags regelt in der Tat, dass von jedem Mitgliedstaat das von ihm zur Verfügung gestellte Kapital ohne weitere Bedingungen jederzeit durch den Gouverneursrat abgerufen werden kann, wenn das Geld für Finanzhilfen benötigt wird. Dieses Kapital ist ja bereits von Gouverneursrat und – in unserem Fall – Bundestag zugesichert worden. Es geht nur noch um den Zeitpunkt der Bereitstellung der genehmigten Gelder durch die Mitgliedstaaten.
Die haushalterische Gesamtverantwortung des Parlaments, die das Bundesverfassungsgericht zu Recht stets betont, fordert unserer Auffassung nach, dass der Deutsche Bundestag stets zu beteiligen ist und die Verantwortung für die Verwendung der ESM-Gelder gerade nicht allein beim Gouverneursrat, dem Direktorium oder der Bundesregierung liegt.
Auch Entscheidungen über die Bereitstellung zusätzlicher Instrumente, wesentliche Veränderungen der Bedingungen von Finanzhilfen, Beschlüsse über den Abruf von weiterem Kapital sowie die Annahme aller Leitlinien des ESM, für Finanzhilfen, Preisgestaltung, Anleiheoperationen und andere, bedürfen der Zustimmung des Haushaltsausschusses des Bundestages. Im Übrigen müssen Bundestag und Haushaltsausschuss stets beteiligt und regelmäßig informiert werden. Nur für den Fall, dass Ankäufe von Staatsanleihen geplant sind, nimmt ein Sondergremium aus 9 Mitgliedern des Bundestages die Mitwirkungsrechte war. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich anerkannt, dass dieses Instrument meist dringlich ist und besondere Geheimhaltung erfordert, daher sei die Einschränkung des Parlamentsvorbehalts.
Es ist konsequent, dass der ESM, sein Eigentum, seine Mittelausstattung und seine Vermögenswerte ganz unabhängig davon, in wessen Besitz sie sich befinden, Immunität vor gerichtlichen Verfahren jeder Art genießen. Wenn viele Mitgliedstaaten Geld in den ESM einzahlen, darf es nicht sein, dass ein Mitgliedstaat oder ein Staat außerhalb der Europäischen Union Vermögenswerte des ESM beschlagnahmt oder gar einzieht, die letztlich den Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in der Euro-Zone gehören. Der ESM kann aber gemäß Art. 32 Abs. 3 auf diese Immunität verzichten.

Es ist richtig, dass der Vorsitzende des Gouverneursrates und die Mitglieder des Direktoriums persönliche Immunität genießen. Diese Immunität soll nicht vor Strafverfahren oder zum Schutz vor Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten dienen, sondern vor allem dazu, dass Gerichte keine Auskunftspflicht anordnen dürfen. Der ESM operiert mit sehr marktrelevanten Daten und Geschäftsgeheimnissen, deren Preisgabe zu erheblichen Verwerfungen auf den Finanzmärkten führen kann. Machen sich Mitglieder des Direktoriums oder des Gouverneursrates strafbar, kann jede Staatsanwaltschaft die Aufhebung ihrer Immunität beantragen. Art. 35 Abs. 2 des ESM-Vertrages regelt ausdrücklich, dass der Gouverneursrat die gewährten Immunitäten des Vorsitzenden, der Mitglieder, aber auch aller Mitglieder des Direktoriums aufheben kann. Auch für die Mitglieder des Deutschen Bundestages besteht nach dem Grundgesetz Immunität. Sie kann vom Deutschen Bundestag aufgehoben werden, und die Praxis zeigt, dass dies regelmäßig bei einem entsprechenden Antrag einer Staatsanwaltschaft geschieht.

Der ESM ist eine internationale Finanzinstitution, die durch völkerrechtlichen Vertrag begründet wurde. Dies war die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs. Die SPD hat sich stets dafür ausgesprochen, einen Stabilitätsmechanismus bzw. einen Rettungsschirm innerhalb des EU-Rechts einzurichten. Die SPD setzt sich weiter dafür ein, notfalls im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit der Euro-Mitgliedstaaten hier deutlich weitere Schritte zu gehen.
Bedauerlicherweise vermeidet die schwarz-gelbe Koalition bis heute wichtige Regulierungsverschärfungen in Europa.
Wir fordern grundlegende und strenge Reformen des Bankensektors, bei denen die Verluste, die Lasten und die Risikovorsorge von der Branche selbst getragen werden. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit, aber auch der ökonomischen Tragfähigkeit. Es darf für Banken, Bankeneigentümer und Finanzakteure keine bedingungslose Rettung mit dem Geld der Steuerzahler mehr geben.
Dabei geht es geht es dabei um die fundamentalen Prinzipien einer sozialen Marktwirtschaft, in der haften muss, wer Risiken eingeht. Die SPD hat bereits 2009 die stärkere Einführung eines Trennbankensystems gefordert, bei dem Spareinlagen und Investmentgeschäft voneinander getrennt werden und nur die Spareinlagen der Bürgerinnen und Bürger wirksam geschützt sind, sowie zahlreiche Regulierungsverstärkungen für die Finanzmärkte.

Ich hoffe, dass wir es jetzt schaffen, als gemeinsames Europa unsere Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen und uns in der globalisierten Welt zu behaupten. Eine andere Chance sehe ich nicht - für keinen der europäischen Nationalstaaten!
Mit freundlichen Grüßen

Kirsten Lühmann