Frage an Jürgen Trittin von Dieter S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Werter Herr Trittin, zusammen mit weiteren hochkarätigen Abgeordneten sind Sie Ausschußmitglied für "Angelegenheiten der Europäischen Union". Ihre Beschlüsse haben ja dann auch doch weitreichende Wirkung.
Von welchen Grundsätzen und Kriterien lassen Sie sich da leiten? Kann ich das nachlesen und die Arbeit und Ergebnisse des Ausschusses daran messen?
Der kommerzfreie bundesweite Sender Deutschlandradio hat aus Anlaß von "50 Jahre Römische Verträge" ein Forum (euroblog) eingerichtet. Mehr oder weniger prominente und kompetente Vertreter/innen der Medien beziehen hier zu Fragen rund um die EU Stellung.
Ebenso interessierte Leser bzw. euroblogger (also Wähler). Kennen Sie diese Einrichtung?
Interessieren Sie diese Meinungen?
Woraus saugen Sie die Weisheit, zukunftsbeständige Regelungen im Sinne des deutschen Volkes und des europäischen Gedankens, der europäischen Vision festzulegen?
Ist das Thema "Europäische Verfassung" nicht zum Vehikel verkommen, mittels dem Muskelspiele der Nationalstaaten zwecks künftiger Einflussmöglichkeiten transportiert werden?
Haben Sie die begründete Hoffnung, daß die EU jemals über die Funktion eines (fragwürdigen) Regulators für Wirtschaft hinaus auch einmal die Menschen für sich gewinnen kann?
Zur Info
http://euroblog.dradio.de/
Sehr geehrter Herr Schoberth,
ja, ich habe diese Hoffnung, obwohl es immer wieder Anzeichen für einen Rückfall Europas in nationalstaatliche Interessenspolitik gibt. Gerade der hinter uns liegende Gipfel wird insbesondere durch das national egoistische Verhalten der polnischen und britischen Regierung und die offensichtlich sehr unterschiedlichen Vorstellungen über Ziel und Inhalte der EU in Erinnerung bleiben. Es gibt aber auch immer wieder Anzeichen, dass die Idee Europas bei sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern nach wie vor Rückhalt hat. Sicher sind wir alle in den letzten Jahren etwas ernüchtert. Das hat vor allem mit dem Demokratiedefizit in den europäischen Institutionen zu tun, der Bürgerferne ihrer Entscheidungsprozesse und dem begrenzten Einfluss, den die Bürgerinnen und Bürger bisher nehmen können. Es hat aber auch damit zu tun, dass die EU gerade die von Ihnen angesprochene Funktion eines „Regulators für Wirtschaft“ noch nicht ausreichend erfüllt. Sie hat sich zulange als letztlich rein wirtschaftsliberal ausgerichtetes Freihandelsprojekt präsentiert, und den Bereich der sozialen und ökologischen Regulierung des europäischen Marktes noch nicht ausreichend als ihre Aufgabe besetzt. Das Vertrauen der europäischen Bürger würde sie aber durch eine Grundrechtecharta, eine verstärkte soziale Dimension Europas und entschiedene ökologische Politik zurückgewinnen können. Der europäische Verfassungsvertrag hätte Verbesserungen in diesen Bereichen bedeutet und das Demokratiedefizit der EU vermindert. Wesentlich ist deshalb für uns, dass die Substanz des Verfassungsvertrages gewahrt bleibt und die EU handlungsfähiger, demokratischer und transparenter wird. Über Zusatzprotokolle wollen wir schließlich eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen Klima-/Energie- sowie in der Sozialpolitik möglich machen. Die Europäische Union (EU) braucht demokratische und effiziente Institutionen, transparente Verfahren und einen starken Schutz der Grund- und Bürgerinnenrechte. Die EU braucht strukturelle Reformen für die sozial gerechte und nachhaltige Gestaltung der Globalisierung, den Kampf gegen den Klimawandel, die Bekämpfung internationaler Kriminalität und des Terrorismus sowie die verantwortungsvolle Gestaltung von Migration nach Europa. Wollen sich die europäischen Staaten Gehör in der Welt verschaffen, dann müssen sie mit einer stärkeren und abgestimmten Stimme sprechen. Die EU kann durch ihre Verfasstheit zu einem Vorbild für diejenigen werden, die eine Alternative zu einer ausschließlich finanzmarktorientierten Globalisierung suchen. Damit sind auch die wichtigsten Grundwerte und Kriterien zur Sprache gekommen, die ich bei meinen Entscheidungen im EU Ausschuß zugrunde lege. Sie alle sind in den Verfassungsvertrag eingeflossen.
Der Verfassungsvertrag wurde in langen und umfassenden Verhandlungen vom öffentlich tagenden Konvent zur Zukunft Europas erarbeitet und von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig beschlossen. Er birgt den größtmöglichen gemeinsamen europäischen Nenner. Er legt das Fundament einer europäischen Demokratie, errichtet die Union als Grundrechte-Gemeinschaft, gründet ihre Politik auf ein gemeinsames Wertefundament, das die Ziele und Grundwerte beschreibt und auf dem sich die EU als politisches Subjekt bilden kann. Er verpflichtet die EU auf das Prinzip der Nachhaltigkeit und erklärt soziale Rechte zu klassischen Menschenrechten. Er ermöglicht den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Er stärkt die Parlamente und die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger. Und er enthält eine Reform der Institutionen und Politiken der EU, die sie entscheidungs- und handlungsfähig erhält und verhindert, dass aus dem Prozess der Erweiterung eine innere Lähmung der Gemeinschaft entsteht. Der Verfassungsvertrag ist ein praktikabler institutioneller Rahmen für die erweiterte Europäische Union bei gleichzeitiger Sicherung ihrer Handlungsfähigkeit.
Mittlerweile haben 18 EU-Mitgliedstaaten den EU-Verfassungsvertrag – darunter Spanien und Luxemburg per Plebiszit - ratifiziert. Sieben EU-Mitgliedstaaten – mit Rumänien und Bulgarien neun – haben diesen Schritt nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden vollzogen. Demgegenüber stehen das Nein einer Mehrheit der Bürgerinnen Frankreichs und der Niederlande zum Verfassungsvertrag sowie die Kritik am Vertrag durch die Regierungen Polens, der Tschechischen Republik und des Vereinigten Königreiches. Doch das Nein war oft nicht Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung der europäischen Integration. Es beruhte auf einem Bündel an Motiven. Es mischten sich Sorgen um die eigene soziale und wirtschaftliche Situation, Globalisierungsängste, Kritik an einzelnen Vorhaben der EU, Furcht vor den Folgen der erfolgten Erweiterung und vor dem Beitritt weiterer Staaten Europas, Abstrafung der französischen und der niederländischen Regierung sowie die Aufforderung, über einzelne Inhalte des Verfassungsvertrages weiter nachzudenken. Vor diesen Sorgen und dieser Kritik dürfen sich die EU-Mitgliedstaaten nicht wegducken. In Würdigung der übergroßen Mehrheit der Mitgliedstaaten, die Ja zum Verfassungsvertrag gesagt haben bedarf es eines neuen Anlaufs für einen neuen Vertrag. Nach dem Gipfel von Brüssel besteht nun für die Europawahl 2009 Klarheit, was zur Wahl steht. Die für uns wichtige Grundrechtcharta bleibt erhalten. Die Mehrheitsentscheidungen werden im Wesentlichen umgesetzt, das europäische Parlament gestärkt. Das alles gibt Anlass zur Hoffnung, dass die EU bei den Bürgern mittelfristig auch wieder an Ansehen gewinnt. Das unwürdige Gezerre und Geschacher der letzten Monate hat allerdings nicht geholfen.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin