Frage an Jürgen Trittin von Ingrid W. bezüglich Finanzen
Sehr geehrter Herr Trittin,
ich würde gerne Ihren Standpunkt sowie Ihr Abstimmungsverhalten zum ESM-Vertrag kennen lernen.
Insbesondere die Erläuterung Ihres Standpunktes zu sowie eine kritische Diskussion der nachfolgenden ESM-Artikel im Zusammenhang mit dem essentiellen Budgetrecht des Bundestages wünsche ich mir:
Artikel 8: .. 700 Miliarden Euro .. die Brandmauer reicht nicht aus für alle Staaten und noch mehr Geld löst das Problem nicht, sondern schafft mehr Risiken. Eine Fiskalunion ist vertraglich ausgeschlossen.
Artikel 9: .. unwiderruflicher Kapitalabruf binnen 7 Tagen ..kein Einspruch seitens des Parlaments möglich .. sofort haushaltswirksam .. setzt europaweit die Abwärtsspirale in Gang
Artikel 10: .. Änderung des Grundkapitals .. jederzeit kann eine beliebige Erhöhung stattfinden, ohne Widerspruchsrecht ... keine Revidierung der Entscheidung möglich, auch nicht durch neu gewählte Volksvertreter
Artikel 27: .. volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit des ESM und umfassende gerichtliche Immunität .. d.h. ESM kann klagen, aber nicht verklagt werden und dies auch nicht von den gewählten Parlamenten
Artikel 30: .. Immunität von Personen .. keinerlei Rechenschaftspflicht, noch nicht einmal Offenlegungspflicht
Es ist kaum vorstellbar, dass Sie als Privatperson einen Vertrag unterzeichnen würden, der Ihnen wie oben ausgeführt unwiderruflich jegliches Recht aus der Hand nimmt und über Ihr Leben sowie das Ihrer Nachfahren so tiefgreifend bestimmen kann.
Was sagen Sie dazu, dass sich die Herren Borroso, van Rompuy, Draghi und Junckers ins Hinterzimmer zurückgezogen haben und weitere "Schweinereien" wie die Bankenunion, weitere Machtabgabe an die EU usw. aushecken? Ich glaube nicht mehr an "pacta sunt servanda"! Die Verträge sind zu oft gebrochen worden!
Sie sind als Abgeordneter in erster Linie Ihrem Gewissen verpflichtet. Würden Sie diesen ESM-Vertrag stellvertretend für die Bundesbürger ihres Wahlkreises unterzeichnen?
Bitte nehmen Sie öffentlich dazu Stellung.
Sehr geehrte Frau Wilczek,
Bündnis 90/Die Grünen haben sich sehr gründlich mit dem ESM befasst. Er ist ein wichtiger Baustein, um die Eurozone langfristig zu stabilisieren. Er wird Euro-Staaten helfen, die sich in einer Notlage befinden und am Markt keine bezahlbaren Kredite mehr bekommen und dafür sorgen, dass die Notlage eines Mitgliedstaates nicht zu einer Notlage der gesamten Eurozone führt. Zudem bietet er einen gemeinsamen Schutz vor Spekulationen gegen einzelne Mitgliedsstaaten.
Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb bekennen wir uns eindeutig dazu, dass ohne gemeinsame Gewährleistungen ein Ausweg aus der Krise nicht möglich ist. Die Koalition hat mit ihrem zögerlichen Verhalten bisher nur erreicht, dass der größte Teil der Krisenstrategie momentan durch die EZB ausgeführt wird. Dadurch werden de facto Risiken aus den nationalen Haushalten auf die EZB verlagert. Hinter der EZB stehen am Ende jedoch dieselben europäischen SteuerzahlerInnen. Die Risiken bei der EZB übersteigen mittlerweile das Volumen des ESM bei weitem. Somit ist die Bundesregierung nicht ehrlich gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie behauptet, sie sei gegen eine Vergemeinschaftung von Schulden. Diese gibt es bereits.
Der Anteil Deutschlands am eingezahlten Eigenkapital des ESM beläuft sich auf ca. 22 Milliarden Euro und am abrufbaren Kapital auf ca. 168 Milliarden Euro. Insgesamt können Kredite in Höhe von 500 Mrd. Euro gewährt werden. Die maximale Gewährleistungshöhe ist somit fixiert. Die Parlamentsbeteiligungsrechte werden in dem ESM-Finanzierungsgesetz (ESMFinG) geregelt.
Die Summe des deutschen Anteils am ESM ist begrenzt und kann nicht überschritten werden, über sie entscheidet der Deutsche Bundestag. Genauso wie über die Aufnahme eines Staates unter den Rettungsschirm. Zudem sind sich die Fraktionen einig, dass sowohl bei einer Erhöhung des Stammkapitals als auch bei einer Änderung der Finanzhilfeinstrumente der Bundestag vor Beschluss des Gouverneursrates ein zustimmendes Votum erteilen muss.
Eine Aufstockung des ESM kann der Gouverneursrat also nicht ohne vorherige Zustimmung des Deutschen Bundestages beschließen. Bevor der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat einer Erhöhung des Rettungsschirmvolumens zustimmt, muss der Deutsche Bundestag hierzu einen zustimmenden Beschluss fassen. Sagt der Bundestag "Nein", so ist der deutsche Finanzminister gesetzlich verpflichtet, im Gouverneursrat die Aufstockung abzulehnen. Und dadurch, dass eine Aufstockung nur im gegenseitigen Einvernehmen beschlossen werden kann, würde an nur einer "Ablehnung" eine geplante Aufstockung scheitern.
Anders stellt es sich jedoch dar, wenn der Gouverneursrat genehmigtes nicht eingezahltes Kapital abruft und den Mitgliedern eine angemessene Frist für die Einzahlung setzt. Diese Situation kommt zum Tragen, wenn ein Land die Kredite an den ESM nicht zurückzahlt und dieser somit bei seinen Gläubigern in der Schuld steht. In einem solchen Moment muss der ESM dann auf seine Bareinlage zurückgreifen, um die Verluste aufzufangen. Das ist wichtig, damit der ESM als verlässlich gilt und ein gutes Rating bekommt/behält. Die Bareinlage muss der ESM dann auffüllen, indem er einen höheren Anteil des zugesagten/gezeichneten Kapitals abruft. Aber auch in diesem Szenario kann der ESM nicht über die Grenzen hinaus, die der Deutsche Bundestag beschlossen hat, hat Kapital abrufen.
Der ESM ist also weder ein Fass ohne Boden, noch mangelt es ihm an demokratischer Legitimation und Kontrolle.
Auch wenn der ESM keine Europäische Institution ist, orientieren sich die Immunitäts-Regelungen für ESM-Angestellte an denen, die auch für die Angestellten der europäischen Institutionen gelten. Diese genießen jedoch keine rechtliche Immunität als Privatpersonen. So auch für ESM-Akteure (Mitglieder des Gouverneursrat, also die Finanzminister; die Mitglieder des Direktoriums), die Immunität bezieht sich lediglich auf ihre amtlichen Handlungen. Das heißt, niemand soll z.B. angeklagt werden können, weil er - unter den gegebenen Voraussetzungen - ein bestimmtes Land für nicht solvent befunden hat. Die Immunität erstreckt sich jedoch nicht auf strafbare Handlungen, die nichts mit den Amtshandlungen zu tun haben. Die Immunität kann durch den ESM aufgehoben werden.
Europa ist in einer existentiellen Krise. Die Wirtschaft in vielen Ländern schrumpft, die Arbeitslosigkeit und Armut steigt, die Zinskosten für die Krisenländer explodieren, die Kapitalflucht vom Süden in den Norden verschärft sich. Europa steht vor der Alternative, entweder den Zerfall der Währungsunion zu riskieren oder mutige Schritte hin zu einer fiskalischen und politischen Union zu gehen. Um die gegenwärtige Krise dauerhaft zu überwinden, brauchen wir mittelfristig mutige Integrationsschritte. Wir brauchen mehr Europa - dazu gehört auch die Übertragung von Kompetenzen im Haushalts und Steuerbereich auf die europäische Ebene. Für solche Schritte wäre eine Grundgesetzänderung erforderlich. Die ist möglich durch 2/3 Mehrheit von Bundestag und Bundesrat. Volksabstimmungen kennt das Grundsetz nicht. Unser Versuch sie einzuführen scheitert regelmäßig am Widerstand von CDU und CSU. Wir pl ädieren dafür solche Schritte in einem europäischen Konvent unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft und der Sozialpartner breit zu diskutieren.
Die Vorschläge von Rompuy&Co sind wichtige Diskussionsanstöße, die im Grundsatz auf Unterstützung treffen. Wir fordern die Einrichtung eines europäischen Altschuldentilgungsfonds nach dem Vorschlag des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, um den Zinsdruck auf die Krisenländer zu mindern. Und wir plädieren für die Schaffung einer europäischen Bankenunion mit europäischer Aufsicht, gemeinsamem Einlagensicherungssystem und einem Banken-Restrukturierungsfonds, um die Kapitalflucht aus dem Süden zu beenden und die unselige Verquickung zwischen Banken- und Staatsschuldenkrise zu durchbrechen. Solche notwendigen Schritte sollten und könnten auch kurzfristig angegangen werden.
Mit freundlichen Grüßen
Jürgen Trittin