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Frage von Carmen F. •

Frage an Jürgen Trittin von Carmen F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

NATO Einsatz in Lybien

Nach 6 Monaten "Demokratie" ist Lybien zerrissen, es gibt tausende politische Gefangene, die gefoltert werden und hunderte Tote.
Dunkelhäutige werden aufgrund ihrer Rasse offen angegriffen, gequält und getötet.
Es gibt keine Meinungsfreiheit, es gibt keine Rechtssicherheit, Rebellentruppen bekämpfen sich gegenseitig.
Angesichts der anhaltenden Gewalt, der barbarischen Menschenrechtsverstöße und der Willkürherschaft des Regimes sollte die NATO Militärisch und finanziell einschreiten um für die Bürger eine gerechtes demokratisches Leben zu ermöglichen!
Diese Menschen jetzt alleinzulassen ist doch eines humanitär handelnden Bündnisses unertragbar!
1. Wie stehen sie zu der anhaltenden Gewalt, der Folter und Tötungen durch die Übergangsregierung, was tun sie dagegen?
2. Warum wird in Afghanistan der Schutz der Bevölkerung aufrechterhalten und für Lybien nicht?
3. Was werden sie und die Partei tun, um Lybien zu einem demokratischen Rechtsstaat zu verhelfen?
4. Wer entscheidet denn in der Regierung welches Land "Humanitäre Interventionen" braucht, bzw. auf welcher Grundlage die Entscheidungen getroffen werden?

MFG
Carmen Fischer

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Fischer,

vielen Dank für Ihre Frage.

Wir Grüne sehen die derzeitige Entwicklung in Libyen mit Sorge. Bei allem verständlichen Fokus auf die Lage in Syrien dürfen die Menschen in Libyen jetzt nicht vergessen werden. Besonders die Situation der ca. 70.000 Binnenflüchtlinge ist sehr besorgniserregend. Auch die Übergriffe und Menschenrechtsverletzungen an denen, die verdächtigt werden, an der Seite Gaddafis gestanden zu haben, sind inakzeptabel und müssen aufgeklärt werden. Wir Grüne weisen immer wieder auf die Situation hin und fordern von Bundesregierung und Europäischer Union entschiedenes Handeln.

Dennoch sehen wir hier nicht die NATO in der geeigneten Rolle, gegen die immer noch schwierige Lage in Libyen vorzugehen, schon gar nicht militärisch. So richtig die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates zu Libyen war, so fatal war es, dass dieses UN-Mandat durch die NATO-Staaten überdehnt wurde. Denn die ergriffenen Maßnahmen beschränkten sich nicht allein auf Nothilfe, sondern bestanden zum Teil in einer direkten Luftunterstützung des Kampfes der Rebellen. Das war zumindest durch die UN-Sicherheitsratsresolution nicht gedeckt. Diese Probleme müssen aufgearbeitet werden, da sie sonst die zukünftige Glaubwürdigkeit von Festlegungen in UN-Resolutionen in Frage stellen könnten. Wir sehen dies ganz aktuell bei dem Ringen um eine gemeinsame Resolution zu Syrien, die von Russland und China blockiert wird, auch wegen der Erfahrungen mit dem NATO-Einsatz in Libyen.

Generell müssen Interventionen unserer Meinung nach von einem Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gedeckt sein. Im Fall Libyens wurde zum ersten Mal in der Resolution auf das internationale Konzept der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, RtoP) verwiesen. Dieses Konzept unterscheidet sich von der humanitären Intervention, denn die humanitäre Intervention ist zum einen auf militärische Maßnahmen beschränkt und zum anderen nicht als Instrument in der Charta der Vereinten Nationen
http://de.wikipedia.org/wiki/Charta_der_Vereinten_Nationen verankert.
Das Konzept der RtoP ermöglicht, nach den Erfahrungen mit Srebrenica und Ruanda, ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft, wenn es zu groben Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord oder ethnische Säuberungen kommt. Mit seinen Prävention-, Reaktions- und Wiederaufbauelementen verfolgt das Konzept außerdem einen weit umfassenderen Ansatz als die humanitäre Intervention. Für uns Grüne bleibt aber die Prämisse, dass der Einsatz militärischer Gewalt ultima ratio bleiben muss. Erst müssen alle anderen präventiven, diplomatischen und politischen Mittel wie Sanktionen und Verhandlungen ausgeschöpft werden.

Es ist die vordringliche Aufgabe Deutschlands und Europas, dabei zu helfen, dass in Libyen eine demokratische Entwicklung gelingt. Libyen braucht, ebenso wie Ägypten und Tunesien, Hilfe beim Aufbau staatlicher und rechtsstaatlicher Institutionen, ebenso wie neue wirtschaftliche Chancen. Hier muss vor allem die Europäische Union wirksame Unterstützung leisten.

Notwendig ist zudem eine gerichtliche Aufarbeitung der Verbrechen während der Kämpfe in den vergangenen Monaten, egal, von wem sie begangen wurden. Libyen muss darüber hinaus schnelle Unterstützung im Bereich Versöhnungsarbeit und Mediation angeboten werden. Es gilt, die ehemaligen Kämpfer zu entwaffnen und zu demobilisieren.

Aber wir fordern auch seit langem, dass auch die Kooperation von deutschen Unternehmen und des BND mit dem alten Regime zum Gegenstand einer unabhängigen Untersuchung werden muss. In diesem Zusammenhang muss geklärt werden, wie deutsche Waffen in die Hände des Gaddafi-Regimes gelangen konnten und ob der BND eine Rolle bei der Ausbildung von libyschen Sicherheitskräften gespielt hat. Deutschland kann zukünftig nur ein glaubwürdiger Partner eines demokratischen und rechtstaatlichen Libyens werden, wenn es hier rigoros Aufklärung betreibt.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Trittin