Frage an Ismail Ertug von Christine K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ertug,
seit 2014 wird über eine europäische Arbeitslosenversicherung diskutiert.
Ist diese Diskussion noch aktuell? Falls ja, können Sie mir aus Ihrer Sicht die Auswirkungen einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung schildern? Was wären aus Ihrer Sicht die Vorteile, was die Nachteile für die deutschen Arbeitslosen?
Herzlichen Dank im Voraus.
Mit freundlichem Gruß
C. K.
Sehr geehrte Frau K.,
vielen Dank für Ihre Frage.
Die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung wurde 2014 vom ehemaligen EU-Kommissar László Andor kurz vor Ende seiner Amtszeit aufgeworfen. Seine Ideen waren konzeptionell nicht wirklich ausgereift und ließen demnach auch viel Raum für Spekulation und Panikmache. Warum, möchte ich Ihnen gerne kurz erläutern:
Herrn Andors Vorstellung war es, dass bei Arbeitslosigkeit 40% des letzten Einkommens für ein halbes Jahr an die Betroffenen ausgezahlt werden soll. Finanziert werden soll das Ganze aus einem Europäischen Arbeitslosenversicherungsfonds, der sich aus Beiträgen aller Mitgliedstaaten speist. Da die Pläne bei ihrer Vorstellung im Sommer 2014 sehr vage waren, bot sich hier Raum für eine polemische Diskussion um die Rolle Deutschlands als „Zahlmeister“ für wirtschaftlich schwache Mitgliedstaaten. Dabei wurde zu oft vergessen, dass auch Deutschland vor konjunkturellen Krisen nicht gefeit ist. Grundsätzlich teile ich die Position meiner Kollegin Jutta Steinruck, die dem zuständigen Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL) angehört, und sehe ich die Pläne als einen Schritt in die richtige Richtung, da eine europäische Arbeitslosenversicherung als Instrument des konjunkturellen Ausgleichs den Stabilitätsmechanismus der Europäischen Union sinnvoll unterstützen kann. Gegenwärtig gibt es aber noch zu viele offene Fragen, um sich hier endgültig positionieren zu können. So liegt bislang kein konkreter Gesetzesvorschlag der Europäischen Kommission vor. Für eine derartige Arbeitslosenversicherung müssten die Kompetenzen der Europäischen Union auf den Bereich der Sozialversicherungen übertragen werden. Dazu bedarf zuerst der Überarbeitung der europäischen Verträge. Auch müssten Sozialsysteme der Mitgliedstaaten angepasst werden. Eine baldige Umsetzung ist also sehr unwahrscheinlich.
In der Wissenschaft hingegen ist die Debatte noch in vollem Gange. Zahlreiche Institute haben zuletzt Studien zur Wirksamkeit und potentiellen Umsetzung vorgelegt. Darunter beispielsweise das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, das zu dem Schluss kommt, eine europäische Arbeitslosenversicherung hätte die Probleme der besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Staaten zu einem bedeutenden Teil abmildern können. Allerdings wäre es in den betrachteten Jahren zwischen 2000 und 2013 zu einer deutlichen Umverteilung zu Ungunsten von wirtschaftsstarken Mitgliedstaaten gekommen und es hätte durchaus permanente Geber- und Empfängerländer gegeben.
Deutsche Bank Research hingegen hält es für möglich, eine EU-Arbeitslosenversicherung so zu gestalten, dass sie nicht zwangsläufig zu Umverteilung zwischen Ländern führt. Dazu müssten die Zahlungen nur dann geleistet werden, wenn die Arbeitslosenquote stark vom langjährigen nationalen Gleichgewicht abweiche.
Letztlich hat Andor mit seinen Plänen einer europäischen Arbeitslosenversicherung also ein Thema angestoßen, das konzeptionell noch in den Kinderschuhen steckt. Entsprechend entwickelt die Wissenschaft aktuell Szenarien und füllt die noch unausgereiften Pläne des ehemaligen EU-Kommissars mit Umsetzungsideen. Die politische Realisation liegt aber wohl noch in weiter Ferne.
Hier finden Sie die Aussprache im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL):
http://www.europarl.europa.eu/ep-live/en/committees/video?event=20160126-1400-COMMITTEE-EMPL
Studie:
http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2014/510984/EPRS_STU(2014)510984_REV1_EN.pdf
Sollten Sie noch weitergehende Fragen zu diesem Thema haben, möchte ich sie gerne an meine Kollegin und die zuständige Fachpolitikerin Jutta Steinruck verweisen, die dem Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EPML) angehört. Ich hoffe ich konnte Ihre Fragen weitgehend klären.
Mit freundlichen Grüßen
Ismail Ertug