Frage an Ismail Ertug von Stefan K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Ertug,
für wie real halten Sie die Möglichkeit einer Invasion Taiwans durch die Volksrepublik China und wie sollten Deutschland und die EU darauf reagieren?
Für Ihre Antwort vielen Dank im Voraus.
Mit freundlichen Grüßen
S. K.
Sehr geehrter Herr Kugler,
vielen Dank für Ihre Frage, die – um ehrlich zu sein – aufgrund ihrer Komplexität in der Tat nicht einfach zu beantworten war. Wie „real“ oder akut die Möglichkeit einer Invasion durch die Volksrepublik China in Taiwan derzeit erscheint, kann ich als Verkehrs- und Industriepolitiker des Europäischen Parlamentes nur schwer einschätzen. Da wären Kolleginnen und Kollegen aus dem Rat, dem Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) des EU-Parlaments oder Fachpolitikerinnen im Auswärtigen Amt mit ziemlicher Sicherheit die besseren Ansprechpartner.
Während das Europäische Parlament gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig ist und Haushaltsbefugnisse ausübt, nimmt der Präsident des Europäischen Rates (derzeit Herr Charles Michel) noch weitere Aufgaben wahr. Nach Artikel 15 des EU-Vertrages (EUV) ist der Präsident des Europäischen Rates zum Beispiel für die Außenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Demzufolge fänden Sie höchstwahrscheinlich in Herrn Michels Kabinett die besseren Ansprechpartner:innen, um dieser Frage nachzugehen. Wie die Europäische Union auf das von Ihnen geschilderte Szenario reagieren sollte, hinge sicherlich auch ein Stück weit davon ab, welche politischen Interessen die EU im Hinblick auf Taiwan verfolgt.
Was ich Ihnen an dieser Stelle aus völkerrechtlicher Sicht ganz allgemein mitteilen kann ist, dass das UN-Gewaltverbot aus Art. 2 Ziff. 4 der Charta der Vereinten Nationen auch für das Verhältnis geteilter Staaten gilt. Darüber hinaus gilt das Gewaltverbot auch für Teile von Staaten, die faktisch einen unabhängigen Gebietsteil darstellen. Was ich damit zum Ausdruck bringen will ist, dass alle Staaten und deren unabhängige Autonomien grundsätzlich immer versuchen sollten, alle Differenzen friedlich zu lösen und von der Anwendung von Gewalt abzusehen.
Wie Sie sicherlich wissen, verfolgt China in der Taiwan-Frage das so genannte „Ein-China“-Prinzip. Es soll also versucht werden, die grundlegenden Interessen Taiwans und Chinas nach dem Motto „ein Land, zwei Systeme“ zu vereinen. Welche Bedeutung dem Selbstbestimmungsrecht in der Taiwan-Frage zugesprochen werden kann, ist völkerrechtlich ein sehr heikles Thema. Ein wichtiger Anhaltspunkt, um eine aussagekräftige Einschätzung zu erlangen, wäre hier zum Beispiel, wie die UN-Generalversammlung Chinas Berücksichtigung des Selbstbestimmungsgedankens bewertet und wie sich letztendlich die regionale Gesamtsituation zur Sicherung des Friedens darstellt.
Selbstverständlich könnte man die Frage stellen, ob China einer objektiven Rechtspflicht allein durch die Gewährleistung eines hohen Maßes an Autonomie in Taiwan gerecht wird – diese Frage könnte die Volkrepublik China aber umgekehrt auch in Bezug auf Autonomien in der EU anbringen. Wie Sie sehen ist die Beantwortung Ihrer Frage in der Tat komplexer, als Sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Es grüßt Sie recht herzlich,
Ismail Ertug, MdEP