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Frage von Georg M. •

Frage an Ismail Ertug von Georg M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Ertug,

aktuell kam es zu einem erschreckenden Unglück beim überqueren eines Flüchtlingsboots.
Und nun gibt es wieder Politiker die gleich wieder mehr legale Migration erlauben wollen. Wo soll das nur enden? Das Asylrecht war einst für Menschen angedacht, die wirklich verfolgt waren- Armutsmigration gehörte nicht dazu.
Wie sehen Sie das?

Gibt es Ihrer Meinung nach auch Verlierer aufgrund der hohen Zuwanderung nach Deutschland ( 2012 über eine Million)?
Wenn nicht, dann könnte man ja die Einreise-und Aufenthaltsbestimmungen ganz abschaffen, oder? Ganz so tun manche Politiker ja. Dabei gibt es m.W. auch viele Menschen ohne Aufenthaltstitel in Deutschland, die im Verborgenen leben.
Wieviel Zuwanderung verträgt Deutschland im Jahr und was spräche dagegen das kanadische Zuwanderungsmodell in Deutschland einzuführen?
Warum fragt man nicht das Volk, wieviel und welche Zuwanderung es möchte?

Ich stelle fest, dass eine hohe Zuwanderung vor allem den Arbeitgebern nützt, aber den einfach qualifizierten Menschen, den Kranken und den Wohnungssuchenden kann das durchaus schaden. Teilen Sie diese Meinung?

Mit freundlichen Grüßen,

Georg Mayer

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Antwort von
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Sehr geehrter Herr Mayer,

vielen Dank für Ihre Anfrage zur Zuwanderung und zum Asylrecht.
Die Gründe, warum Menschen Asyl suchen, haben sich meines Erachtens verändert. Ich denke, dass neben der politischen Verfolgung auch immer mehr Leid und Elend als Grund diskutiert werden muss. Insbesondere die Not in Afrika wird man nicht isoliert betrachten können. Besonders stört mich an der Debatte, dass immer so getan wird, als ob Menschen aus Notsituationen fliehen, nur um dann in Deutschland auf Kosten anderer zu leben und sich einen faulen Lenz zu machen. Dies ist umso bizarrer, da AsylbewerberInnen verboten ist zu arbeiten, sich - in Ländern mit Residenzpflicht - frei zu bewegen und sie vielen weiteren Einschränkungen unterliegen.

Die Asyldebatte der 90er Jahre, an deren Ende der Asylkompromiss stand, muss nach mehr als 20 Jahren neu aufgerollt werden, weil sich die Problemlagen verändert haben. Die Menschen in Afrika sind einerseits geplagt von Bürgerkrieg, Armut und diktatorischen Regierungen, andererseits vom Klimawandel, der weite Teile Afrikas unfruchtbar werden lässt. Ganz zu schweigen von den einheimischen Ressourcen (Bodenschätze, Fischfang etc.), die Europäer, Amerikaner und Asiaten einseitig ausbeuten. Niemand verlässt seine Heimat und begibt sich auf eine lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer, wenn die Not nicht unerträglich wäre. Die restriktive Europäische Flüchtlingspolitik (Frontex) hat bewirkt, dass sich Europa hermetisch abgeriegelt hat. Außer dem Mittelmeer gibt es keine Möglichkeit mehr nach Europa zu fliehen.

Ich glaube nicht, dass es aufgrund der Zuwanderung nach Deutschland Verlierer gibt - außer der Menschlichkeit, die in dem oftmals populistisch geführten Diskurs auf der Strecke bleibt. Dabei wird auch gerne mit Zahlen hantiert, die nicht belegbar sind (z.B. Bundesminister Friedrich über die Zuwanderung aus Rumänien) oder aus dem Kontext gerissen werden. Die von Ihnen zitierte eine Million Zuwanderer nach Deutschland gehört zu letzteren. Zwar sind 2012 1,081 Millionen Menschen nach Deutschland zugewandert, allerdings sind gleichzeitig auch 712.000 Menschen abgewandert (davon 579.000 Ausländer), was einen Zuwanderungssaldo von 369.000 Menschen entspricht. Den Großteil der Zuwanderung macht dabei immer noch die Wanderung zwischen EU-Staaten aus.

Die Zahl der Flüchtlinge nach Deutschland kann man anhand der Asylzahlen messen. 2012 wurden in Deutschland 64.539 Asylanträge gestellt. Betrachtet man die Top10 der Länder, aus denen die Antragsteller kommen, stellt man fest, dass bei Ländern wie Afghanistan, Syrien, Irak, Iran oder dem Balkan immer noch die harten Gründe für Asyl gelten: Krieg, Verfolgung, Vertreibung. Zwar wird immer darauf hingewiesen, dass Deutschland in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge unter den EU-Staaten aufnimmt, allerdings verschiebt sich das Bild, wenn man die Zahl in Beziehung zur Bevölkerungszahl stellt. Auf Deutschland kommen 0,95 Asylanträge pro 1.000 Einwohner - wesentlich kleinere Staaten nehmen deutlich mehr Flüchtlinge auf (z.B. Malta 5/1000; Schweden 4,63/1000; Luxemburg 3,9/1000). Möchte man sich diese Zahl verbildlichen, so kämen auf eine ausverkaufte Allianz Arena 71 Flüchtlinge.

Das kanadische Zuwanderungsmodell könnte durchaus als Vorbild dienen. Vor allem, da Kanada eine grundsätzlich andere Einstellung zum Thema Migration und Einwanderung hat als Deutschland (und auch der Rest Europas). Während hier generell eine Antipathie gegen Zuwanderung - seien es Flüchtlinge, gelernte Arbeiter oder auch Fachkräfte - gibt, so ist es für Kanada ganz normal ein hohes Niveau an Zuwanderung verschiedenster Gruppen zu haben. Man unterteilt in Zuwanderung aus sozialen, humanitären und ökonomischen Gründen und erkennt den Nutzen der Zuwanderung voll an. Kanada sieht sich selbst als Nation von Einwanderern.

Dem entsprechend gibt es auch umfangreiche Eingliederungsleistungen für alle Einwanderer. Seien es kostenlose Sprachkurse (bis zu drei Jahre lang), umfangreiche Unterstützung bei der Orientierung und Eingewöhnung im neuen Land (z.B. Übersetzungshilfe, Eingliederungshilfe in den Arbeitsmarkt) oder das so genannte „Host Program“, das die soziale Integration in Gastgebergruppen befördern soll. Darüber hinaus sind Wirtschaftsflüchtlinge für Kanada kein Problem sondern eine eigene Kategorie von Zuwanderern, deren Qualifikationen bewertet werden und die eine faire Chance auf „permanent residency“ bekommen. Das gesamte kanadische Bewertungssystem, das für jede Art von ausgebildetem oder studiertem Arbeitnehmer greift, garantiert einen gerechteren und objektiveren Zugang zur Aufenthaltserlaubnis als das europäische System. Dies alles hält Kanada nicht davon ab, ein konstant hohes Niveau der Aufnahme von Flüchtlingen aus humanitären Gründen zu halten.

Das Volk bei Migration zu befragen halte ich für nicht zielführend. Zu verlockend wäre diese Option für rechtskonservative und fremdenfeindliche Parteien durch Schüren von Ängsten Zuspruch zu erfahren. Außerdem stellt sich die Frage, wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, ob man nicht in jedem Dorf, jeder Stadt über Zuzüge von außerhalb dieser Stadt entscheiden lassen müsste - ein geradezu absurder Gedanke. Plebiszitäre Elemente können eine repräsentative Demokratie bereichern - bergen aber auch ihre Gefahren. Daher halte ich nichts davon, Volksbefragungen nur punktuell zu bestimmten - meist europapolitischen - Themen zu fordern, sondern ganz allgemein darüber nachzudenken, wo und in welchem Ausmaß sie Sinn machen.

Ich teile Ihre Meinung, dass Zuwanderung den „Normalbürgern“ schadet, ausdrücklich nicht. Die Schwächeren in unserer Gesellschaft werden nicht vom armen Flüchtling bedroht, sondern von kapitalistischer Profitgier und fehlenden Schutzmechanismen. Mit Mindestlöhnen, Mietpreisbremsen und gerechter Verteilung des volkswirtschaftlichen Einkommens (vor allem über die Primäreinkommen) kann man all diejenigen schützen, die in Zuwanderung eine Gefahr sehen. In einem Land, in dem 74% der Bürgerinnen und Bürger ihre wirtschaftliche Situation als gut bzw. sehr gut ansehen, muss rational diskutiert und entschieden werden können.

Mit freundlichen Grüßen

Ismail Ertug