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Frage von Philipp R. •

Frage an Ise Thomas von Philipp R. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie

Sehr geehrte Frau Thomas,

Zur Zeit erstelle ich einen kleinen Wahlinformationszettel für unsere Oberstufe. Aus diesem Anlass habe ich mir gedacht, dass ich vielleicht den Spitzenpolitiker der jeweiligen Parteien ein paar Fragen stelle und diese dann auch veröffentliche. Somit haben die Schüler die Möglichkeit zu entscheiden, welches Konzept sie in Sachen Bildungspolitk für am sinvollsten halten. Und nun die Fragen:

Halten sie ein Zentralabitur und das Ersetzen des Bisherigen Leistungs/Grundkursmodell durch ein Modell mit 5 Kernfächern für sinnvoll? Ist das mit einer individuellen Förderung vereinbar? Sind Sie der Meinung das eine Alternative zu unserem dreigliedrigen Schulsystem gefunden werden muss? Warum?

Mit freundlichen Grüßen
Philipp Rhein
Auguste-Viktoria-Gymnasium Trier

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Lieber Phillip Rhein,

vielen Dank für Ihre interessanten Fragen zur Bildungspolitik, die ich gerne beantworte. Ich habe sie etwas auseinander gezogen und Sie finden meine Positionen jeweils zu den thematischen Fragen.

Herzlichen Gruß
Ise Thomas

Frage :
Halten sie ein Zentralabitur und das Ersetzen des bisherigen Leistungs/Grundkursmodell durch ein Modell mit 5 Kernfächern für sinnvoll? Ist das mit einer individuellen Förderung vereinbar?

Individuelle Förderung erfordert offene, vielfältige und flexible Strukturen an den Schulen und im Unterricht. Gleichzeitig müssen gemeinsame überprüfbare nationale Standards für die Hochschulreife, das Abitur, festgelegt werden. In diesen Standards wird einheitlich für das ganze Land definiert, welche fachlichen Inhalte und insbesondere Kompetenzen, wie z.B. selbständiger Wissenserwerb, Verknüpfung und Anwendung des Wissens, zum Erreichen der Hochschulreife erworben sein müssen. Damit kann jede Schule ihren individuellen Weg für ihre Schülerinnen und Schüler einschlagen, bei dem am Ende doch die in den Standards vereinbarten Kenntnisse und Fähigkeiten erreicht worden sind. Wie schon für die Sekundarstufe I wollen wir auch in der Sekundarstufe II das finnische Modell übernehmen, denn es beinhaltet die geforderte Flexibilität in hohem Maße. Diese Oberstufe ist ein reines Kurssystem. Es besteht aus Pflicht- und Wahlkursen deren Zusammensetzung sich an den festgelegten, zu erreichenden Standards orientiert. Die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe haben zwei bis vier Jahre Zeit die entsprechend geforderte Zahl und Zusammensetzung der Kurse zu erreichen. Die Abschlussprüfung, das Abitur, muss nicht auf einmal zu einem festgelegten Termin abgelegt werden. Den Schülerinnen und Schülern ist es überlassen, zu entscheiden, für welchen Teil des Abiturs sie sich wann im genannten Zeitrahmen zur Prüfung anmelden wollen. Die Schulen bieten dazu ihren Schülerinnen und Schülern am Ende jedes Schulhalbjahrs einen Prüfungstermin an. Sind alle Teile des Abiturs erfolgreich abgeschlossen, ist die allgemeine Hochschulreife erreicht, je nach Leistungsfähigkeit nach frühestens zwei Jahren, in der Regel nach drei Jahren und längstens nach vier Jahren.

Frage:
Sind Sie der Meinung dass eine Alternative zu unserem dreigliedrigen Schulsystem gefunden werden muss? Warum?

Die Alternative zu unserem viergliedrigen (HS, RS, G, FöSch) Schulsystem ist weltweit gefunden. Längeres gemeinsames lernen, die gemeinsame Schule für alle Kinder, die Gesamtschule und unser Vorschlag „Neue Schule“, eine Gesamtschule nach skandinavischem Vorbild, ist weltweit Standard. Alle Spitzenreiter bei den beiden Pisa-Leistungstests sei es Finnland, Kanada oder Korea haben Gesamtschulsysteme. Ein gegliedertes Schulwesen gibt es weltweit nur im deutschsprachigen Raum, also in Deutschland, in Österreich und wenigen Kantonen in der Schweiz. Es ist Ausdruck der Ständegesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts. 1787 konnte Freiherr Abraham von Zedlitz, Schulminister in Preußen, kurz und bündig feststellen: „Wenn der Schulunterricht den Endzweck haben soll, die Menschen für ihr bürgerliches Leben besser brauchbar zu machen, dann ist es eine Torheit, den künftigen Schneider, Tischler oder Krämer wie einen Konsistorialrat oder Schulrektor zu erziehen. Folglich ergeben sich drei Schulformen: Bauern-, Bürger- und Gelehrtenschulen.“ An die Stelle des Standesdenkens trat nach dem 1. Weltkrieg die Begabungstheorie. Es war die Geburtsstunde eines Dogmas, das sich bis heute erhalten hat: Die Menschen sind drei Begabungstypen zuzuordnen – und dafür brauchen wir jeweils eigene Schulen.
In der Fachliteratur gibt es keinen auch nur halbwegs seriösen Ansatz einer wissenschaftlich fundierten Definition der so genannten Begabungstypen. Als Beispiel sei hier nur angeführt, dass es regional extrem unterschiedliche Übergangsquoten in die weiterführenden Schulen gibt. Es ist ein deutliches Stadt-Land-Gefälle oder auch zwischen Stadteilen beim Übergang in Hauptschulen oder Gymnasien festzustellen. Wenn also regional oder auch örtlich extrem unterschiedliche Bildungschancen fortbestehen dann stellt sich die Frage, wie solche Phänomene begabungstheoretisch erklärbar sind. Doch Vorsicht: Jeder Erklärungsversuch läuft Gefahr, ins Lächerliche abzugleiten.
Im Gegensatz dazu liefern die PISA-Studien wissenschaftlich fundierte Ergebnisse für die Forderung nach längerem gemeinsamem lernen. Danach erhalten die Schülerinnen bei gleichen Begabungen, gleiche Fachleistungen und gleicher Sozialschichtzugehörigkeit in verschiedenen Schularten unterschiedliche Entwicklungschancen. Man nehme zwei SchülerInnen im 7. Schuljahr, die über gleiche mathematische Kompetenz, gleiche Intelligenz und die gleiche soziale Herkunft verfügen. Beide erhalten einen Mathematik-Leistungswert von 100 Punkten. Nun lasse man sie ihren Bildungsweg in einer Hauptschule und einem Gymnasium fortsetzen. Am Ende der Jahrgangsstufe 10 ist der Leistungswert der SchülerIn in der Hauptschule auf 141 gewachsen, der der GymnasiastIn aber auf 191. Dies ist ein Effekt der Lernumgebung: Je anregender und je anspruchsvoller sie ist, desto größer sind die Lernfortschritte.
In unserem bestehenden Bildungssystem wird soziale Ungerechtigkeit zementiert. Es gibt nach wie vor einen großen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft der SchülerInnen und ihren Bildungserfolgen – bei der Chancengerechtigkeit liegt Rheinland-Pfalz an drittletzter Stelle aller Bundesländer. Wir verlieren zu viele Talente, wenn schon nach vier Grundschuljahren die Entscheidung über den künftigen Bildungsweg unserer Kinder fällt und sie nach Hauptschule, Realschule oder Gymnasium aussortiert werden.
Das PISA-Siegerland Finnland erreicht mit seinem Schulsystem, dass nur 3% der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss bleiben, bei uns sind es 10%. Die nach der PISA-Studie definierte höchste Kompetenzstufe erreichen an unseren Schulen 9% der Schülerinnen und Schüler, an den finnischen Gesamtschulen sind es 18%. Fast 70% der finnischen Schülerinnen und Schüler schaffen das Abitur, in Rheinland-Pfalz knapp 30%.
Theoretisch ließe sich das gegliederte Schulwesen vielleicht dann noch rechtfertigen, wenn die höhere Ungleichheit zu besseren Leistungen der Schülerinnen und Schüler geführt hätte. Da dieses System jedoch die Ungleichheit vergrößert, ohne die Leistungen zu verbessern, muss es Schritt für Schritt durch unsere „Neue Schule“ nach skandinavischem Vorbild ersetzt werden.