Frage an Irmingard Schewe-Gerigk von Alexander N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Schewe-Gerigk,
im Rahmen unseres Sozialwissenschafts- Grundkurses (Stufe 13 der Friedrich-Harkort-Schule in Herdecke) besprechen wir zur Zeit die Rolle der Bundeswehr sowohl im Inland, als auch im Ausland, ihre jeweiligen Aufgaben und die zugrunde liegenden Verfassungsrichtlinien.
Aufgrund der diversen Auslandseinsätze (ISAF, KFOR u.s.w.) stellt sich uns nun die Frage, nach der Notwenigkeit einer Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht (WPflG vom 21. Juli 1956).
Da sich die im Grundgesetz (Art. 87 a (1) und (3)) festgeschriebene Rolle einer vornehmlichen Verteidigungsarmee derzeit geändert zu haben scheint und das oft von Politikern verwendete Argument bezüglich einer Berufsarmee und der damit verbundenen Gefahr eines Staates im Staat selbst, unser Meinung nach der Zeit nicht mehr entspricht, möchten wir Sie bitten, Ihren Standpunkt zum Thema allgemeine Wehrpflicht, JA oder NEIN?, darzulegen.
Wir würden uns sehr über eine Antwort von Ihnen freuen und bedanken uns bereits im Voraus hierfür.
Mit freundlichen Grüßen
i.A. Alexander Noßmann
Sehr geehrter Herr Noßmann,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Die Grünen sind gegen die allgemeine Wehrpflicht. Das Gerede der Bundesregierung bzw. von CDU/CSU und SPD (z.B. im „Weißbuch zur Sicherheitspolitik“), dass sich die Wehrpflicht „uneingeschränkt bewährt“ habe und die Bundeswehr wegen der Wehrpflicht „in stetem Austausch mit der Gesellschaft, insbesondere jedoch mit der jungen Generation“ bleibe, ist hohl. Tatsache ist: Es gibt in Deutschland keine allgemeine Wehrpflicht mehr, sondern nur noch eine verfassungsrechtlich bedenkliche Pseudo-Wehrpflicht. Das möchte ich Ihnen kurz erläutern.
Die Wehrpflicht ist laut Grundgesetz, Artikel 12a, eine Kann-Pflicht. D.h. die zur Verteidigung gegen bewaffnete Angriffe (GG Art. 73, Abs. 1) aufzustellenden Streitkräfte können auf Grundlage einer allgemeinen Wehrpflicht oder einer Freiwilligenarmee erfolgen. Die Wahl zwischen beiden Möglichkeiten ist eine politische, aber keine beliebiege Entscheidung. Bundespräsident Roman Herzog, selbst ein ehemaliger Verfassungsrichter, hat bereits 1995 darauf hingewiesen, dass die Wehrpflicht kein ewiggültiges Prinzip ist, sondern sicherheitspolitisch begründet sein muss. Er sagte:
„Die Wehrpflicht ist ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet. Sie ist also kein allgemeingültiges ewiges Prinzip, sondern sie ist auch abhängig von der konkreten Sicherheitslage. Ihre Beibehaltung, Aussetzung oder Abschaffung und ebenso die Dauer des Grundwehrdienstes müssen sicherheitspolitisch begründet werden können. Gesellschaftspolitische, historische, finanzielle und streitkräfteinterne Argumente können dann ruhig noch als Zusätze verwendet werden. Aber sie werden im Gespräch mit dem Bürger nie die alleinige Basis für Konsens sein können. Wehrpflicht glaubwürdig zu erhalten, heißt also zu erklären, weshalb wir sie trotz des Wegfalls der unmittelbaren äußeren Bedrohung immer noch benötigen.“/
Der Eingriff in die Grundrechte und Lebensplanung der jungen Männer ist nicht mehr zu rechtfertigen. Der Auftrag der Landesverteidigung mit einer Massenarmee ist nicht mehr der Kernauftrag der Bundeswehr. An Auslandseinsätzen der Bundeswehr nehmen nur „Freiwillige“ - d.h. Berufssoldaten, Zeitsoldaten oder freiwillig längerdienende Wehrdienstleistende teil. Die meisten unserer europäischen Nachbarn haben daraus die Konsequenzen gezogen, und die Wehrpflicht abgeschafft. Die Sozialdemokraten und die CDU/CSU haben das in Deutschland bislang blockiert.
Allerdings steht unseres Erachtens die Wehrpflicht verfassungsrechtlich auf der Kippe. Denn die Wehrpflicht ist in mehrfacher Hinsicht nicht mehr gerecht zu organisieren.
· Deutsche Wehrpflichtige sind im internationalen Vergleich benachteiligt Viele unserer Bündnispartner in der NATO und der EU haben die Wehrpflicht abgeschafft oder ausgesetzt. Damit können junge Franzosen, Engländer, Italiener, Spanier, Portugiesen, Ungarn usw. unmittelbar nach Abschluß ihrer Schul- oder Berufsausbildung entscheiden, was sie künftig machen wollen.
· Frauen dürfen, Männer müssen
Außer im Musik- oder Sanitätsbereich war es Frauen bis 2001 verboten, Soldatin zu werden. Seit 2001 können Frauen auf freiwilliger Grundlage in der Bundeswehr Dienst an der Waffe leisten. Wir begrüßen das. De facto heißt das aber: Frauen dürfen zur Bundeswehr – Männer müssen. Diese geschlechtsspezifisch begründete Ungleichbehandlung ist für viele – vor allem junge - Menschen nicht nachvollziehbar. Deshalb fordern wir: alle sollen dürfen – keine und keiner soll müssen.
· Der Wehrdienstleistende ist eine Minderheit
Die Wehrpflicht soll eine für alle Wehrpflichtigen gleich belastende Pflicht sein. Faktisch können aber nur noch maximal 15 % eines männlichen Geburtsjahrgangs Wehrpflicht leisten. Mehr Plätze hat die Bundeswehr nicht mehr. Das führt zum einen dazu, dass die Anforderungen an die Tauglichkeit und die Ausnahmeregelungen immer mehr ausgeweitet wurden und man sich z.B. durch Heirat von der Wehrpflicht befreien kann. Zum anderen haben wir das Phänomen, dass diejenigen, die den Kriegsdienst verweigern, fast ausnahmslos ihren Dienst leisten müssen. D.h. die allgemeine Wehrpflicht wird ironischerweise mehrheitlich von Kriegsdienstverweigerern erfüllt.
Neuerdings gibt es Bemühungen, die Wehrpflicht innenpolitisch („Heimatverteidigung“ bei Schnee- oder Umweltkatastrophen) oder gesellschaftspolitisch („allgemeine Dienstpflicht“ für den Staat) zu begründen. Das ist aber nicht Sinn und Zweck einer Wehrpflicht. Außerdem gibt es in weiten Gesellschaftskreisen ein dumpfes Gefühl, dass es grundsätzlich gut ist, wenn junge Menschen einen „Dienst für den Staat“ oder „die Gesellschaft leisten“ sollen. Auch wir finden, dass solche gesellschaftlichen Lerndienste sinnvoll und förderungswürdig sind. Aber nur auf freiwilliger Grundlage und zu fairen Bedingungen. Eine allgemeine Dienstpflicht, die Menschen gegen ihren Willen zwingt, ist nicht die Lösung. Abgesehen davon, dass weder das Grundgesetz noch internationale Richtlinien einen solchen Arbeitsdienst erlauben, wäre es sehr schwer und sehr teuer alljährlich für 800.000 junge Menschen eine sinnvolle Aufgabe zu finden. Hinzu kommt, dass dies de facto bedeuten würde, dass viele bezahlte Jobs von „billigen“ Dienstpflichtigen relativ unprofessionell erledigt würden.
All dies führt mich und die Grünen zu der Auffassung, dass es höchste Zeit ist, dass die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt oder abgeschafft wird. Weitere Informationen finden Sie in unserem Bundestags-Antrag „Wehrpflicht überwinden – Freiwilligenarmee aufbauen“.
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/063/1606393.pdf
Mit freundlichen Grüßen
Irmingard Schewe-Gerigk