Frage an Irmingard Schewe-Gerigk von Herbert C. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Irmingard Schewe-Gerigk,
finden Sie das in Ordnung, dass die deutsche Rentenversicherung bei Rentnern, die 100% Erwerbsminderungsrente bekommen, Abzüge machen, die laut Kasseler Sozialgericht nicht erlaubt sind?
Urteil des Bundessozialgericht vom 16.05.2006 AZ:B4 RA 22/02 R, wonach die seit 2001 bei Renten wegen Erwerbsminderung Abschläge nicht machen dürfen.
Ich wäre für eine Antwort dankbar.
Hochachtungsvoll
Herbert Conrad
Sehr geehrter Herr Conrad,
ich bin Ihnen für die Frage zu den Abzügen bei der Erwerbsminderungsrente sehr dankbar. Leider wird in der öffentlichen Debatte oft sehr einseitig über dieses Urteil der 4. Kammer des Bundessozialgerichts berichtet und es wird der Anschein erweckt, als ob die Deutsche Rentenversicherung gegen die Vorgaben des Gesetzgebers verstößt, was so nicht zutreffend ist.
Bei der Reform der Erwerbsminderungsrente wurde die Zurechnungszeit eingeführt. Sie bewirkt eine fiktive Verlängerung der Versicherungszeit bis zum 60. Lebensjahr und verhindert, dass Menschen, die im frühen Alter erwerbsgemindert sind, nicht unverschuldet eine Rente unterhalb der Armutsgrenze erhalten. Der Gesetzgeber wollte aber Ausweichreaktionen von der Altersrente in die Erwerbsminderungsrente verhindern. Er hat deshalb festgelegt: wer vor dem Alter von 63 Jahren eine Erwerbsminderungsrente beantragt, muss Abschläge hinnehmen. Versicherungstechnisch wird der Abschlag über den Zurechnungsfaktor festgelegt. Da es in den letzten Jahren fast selbstverständlich geworden ist mit Ende 50 in Rente zu gehen, ist diese Einschätzung m.E. richtig. Es stellt sich die Frage, warum sollte jemand, der mit 63 Jahren eine Altersrente beantragt, Abschläge hinnehmen müssen, während eine andere Person bereits mit 56 Jahre in Rente gehen kann und eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente sowie fiktive Versicherungsbeiträge zur Höherwertung der Altersrente erhält? In vielen Fällen fällt es auch dem/der 63-Jährigen schwer den heutigen Anforderungen des Arbeitslebens bis zum 65. Lebensjahr noch entsprechen zu können.
Ich finde die Reform der Erwerbsminderungsrente unter diesen Gesichtspunkten nach wie vor gerecht. Allerdings haben wir bei der Heraufsetzung des allgemeinen Rentenalters auf 67 Jahre gegen eine Erhöhung der Regelaltersgrenze für Erwerbsgeminderte von 63 auf 65 Jahre votiert. Wir wollten damit erreichen, dass Beschäftigte, die eine gesundheitlich sehr belastende Tätigkeit wahrnehmen, die Chance erhalten weiterhin mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen zu können. Dies halte ich für eine gerechtere Lösung als niedrigere Altersgrenzen, entlang von Berufsgruppen. Leider haben wir uns mit diesem Vorschlag politisch nicht durchsetzen können.
Mittlerweile hat das Sozialgericht Aachen genau entgegengesetzt zu dem Urteil des Bundessozialgerichts entschieden. In der Urteilsbegründung kritisierten die Aachener Richter ausdrücklich die Entscheidung des BSG. Es wird moniert, die Entscheidung „stehe im Widerspruch zur gesamten rentenrechtlichen Literatur und sei mit dem Gesetzestext nicht vereinbar.“ (Urteil vom 9. Februar 2007, AZ: S 8 R 96/06).
Mit freundlichen Grüßen
Irmingard Schewe-Gerigk