Frage an Inge Höger von Wilhelm K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Höger,
am 17.06.08 gegen 12.15 Uhr hörte ich einen Beitrag auf WDR 5, welcher sich mit türkisch als zweiter Landessprache in Deutschland befasste.
Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie bzw. Ihre Partei der Ansicht sind, dass bereits heute türkisch faktisch zweite Landessprache in Deutschland ist und ob sich Ihre Partei "Die Linke" künftig dafür einsetzen wird, türkisch offiziell als zweite Landessprache in Deutschland anzuerkennen und zu fördern.
Sehen Sie es als sinnvoll an, die bereits etablierte(n) türkische(n) Parallelgesellschaft(en) in unserem Lande als unveränderbares Faktum anzuerkennen, Integrationsbemühungen, wie von der politischen Rechten gefordert, eigentlich sinnlos sind und erhebliche finanzielle Transferleistungen zum Abbau der auch bei türkischen Migranten feststellbaren Armut viel sinnvoller wären?
Sind Sie bzw. ist Ihre Partei der Ansicht des türkischen Ministerpräsidenten, dass alle Türken in Deutschland, auch solche mit deutscher Staatsbürgerschaft, jetzt und für immer in Deutschland vom türkischen Staat vertreten werden müssen, wie dieser es in seine Kölner Rede unmissverständlich gefordert hat?
Mit freundlichen Grüßen
Wilhelm König
Sehr geehrter Herr König,
Sie haben im Wesentlichen drei Fragen an mich gerichtet, die ich gerne beantworten möchte:
1) Nein, DIE LINKE. setzt sich nicht dafür ein, Türkisch "offiziell als zweite Landessprache in Deutschland anzuerkennen" - wenn Sie damit die Einführung einer zweiten Amtssprache meinen.
Allerdings ist das Türkische eine in Deutschland viel genutzte Sprache, und insofern rein faktisch eine der gebräuchlichen Landessprachen des Einwanderungslandes Deutschland. In Regionen, Städten oder Stadtteilen mit einem hohen Anteil türkischsprachiger Menschen (gleiches gilt aber auch für andere Nationalitäten bzw. Sprachen) kann es deshalb geboten sein, Hinweisschilder, amtliche Informationen und Broschüren auch mehrsprachig anzubieten, um die Bevölkerung gleichermaßen erreichen zu können. In der aktuellen Debatte wird dies unter dem Begriff der "interkulturellen Öffnung" diskutiert, d.h. dass Behörden, Institutionen, Vereine, Krankenhäuser, soziale und medizinische Dienste usw. sich konkret auf die besonderen Bedüfnisse und Anforderungen einstellen sollen, die sich aus der interkulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ergeben. Hierzu gehören mehrsprachige Angebote und Dolmetscherdienste, aber auch die verstärkte Einstellung von Menschen mit Migrationshintergrund als Beschäftigte usw. Natürlich strebt DIE LINKE. grundsätzlich an, es allen hier lebenden Menschen zu ermöglichen, sich in der deutschen Sprache zu verständigen, und ihnen entsprechende Sprachkursangebote zu unterbreiten. In der Vergangenheit ist auf diesem Gebiet leider unendlich viel versäumt worden, infolge einer Politik, die die Einwanderungssituation in Deutschland leugnete, die hier lebenden Nicht-Deutschen keinerlei Integrationshilfen anbot und die im Gegenteil sogar auf deren Ausgrenzung setzte. Die Förderung der deutschen Sprachkompetenz bedeutet nicht, dass die Betroffenen ihre Muttersprache verleugnen oder nicht mehr sprechen sollen, denn Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit ist eine wertvolle individuelle und gesellschaftliche Ressource! Übrigens verpflichtet die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Behörden der Bundesländer, Korrespondenzen auch in den Regionalsprachen Niedersächsisch (Plattdeutsch), Friesisch, Dänisch bzw. Sorbisch zu ermöglichen. Für mich ist nicht ersichtlich, wieso ein solches Angebot einer muttersprachlichen Korrespondenz mit Behörden nicht auch für andere gebäuchliche Sprachen gelten sollte, wenn die Betroffenen hierauf angewiesen sind.
2) Ihre zweite Frage enthält eine (leider weit verbreitete) Behauptung, die ich nicht teile: Es gibt keine "türkische(n) Parallelgesellschaft(en)" in unserem Land! Was leicht gesagt ist und auch in Medien immer wiederholt wird, muss nicht richtig sein. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es in Deutschland - im Gegensatz zu manch anderen Ländern - keine Stadtviertel gibt, in denen eine ausländische Nationalität absolut dominiert, also mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Zum Beispiel beträgt der Ausländeranteil (d.h. nicht nur der türkischen Staatsangehörigen) im mitunter als "Klein-Anatolien" bezeichneten Berliner Bezirk Kreuzberg nicht einmal ein Drittel. Wissenschaftliche Befragungen ergeben weiterhin, dass nur bei einem sehr geringen Teil - unter einem Fünftel - türkischer Staatsangehöriger so etwas wie eine "Tendenz zur Selbstabschottung" festgestellt werden könnte. Dieser Befund muss zugleich damit kontrastiert werden , dass die Abschottung und Ablehnung, die von der deutschen Bevölkerung ausgeht, weitaus größer ist: Wenn über 50% der BundesbürgerInnen sagen, ihnen wäre ein türkisches Familienmitglied "unangenehm" (oder 33% ein "Türke als Nachbar"), dann wird deutlich, dass "Integration" etwas ist, was nicht isoliert als Problem oder Aufgabe "der Ausländer" betrachtet werden kann, sondern eine Aufgabe der Gesamtgesellschaft darstellt. Richtig ist, das sprechen Sie an, dass ein zentrales Augenmerk auf die Bekämpfung der besonderen Armut und sozialen Ausgrenzung von
MigrantInnen gelegt werden muss. Viele Integrationsprobleme stellen sich bei näherer Betrachtung als in erster Linie soziale Probleme dar, die ihre Ursachen z.B. in einem höchst selektiven und diskriminierenden Bildungs- und Ausbildungssystem oder mangelnden Erwerbsmöglichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland haben. Die örtliche "Ballung" von Nicht-Deutschen in bestimmten Stadtteilen ist überwiegend nicht selbst-gewählt - und damit auch kein Beleg für eine sich abschottende Haltung der Betroffenen: MigrantInnen sind vielmehr die Leidtragenden eines Verdrängungsprozesses sozial Schwacher in Wohnquartiere mit schlechteren Lebensstandards, weil sie sich eine Wohnung in anderen Stadtteilen oft nicht leisten können. Hinzu kommt eine diskriminierende Wohnungsvergabepraxis, die MigrantInnen auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt. Insgesamt rate ich deshalb, den vorurteilsbeladenen Begriff der "Parallelgesellschaft" nicht zu benutzen, zumal sich unsere Gesellschaft letztlich aus unzähligen kleinen und großen "Parallelgesellschaften" zusammensetzt, die zumeist nebeneinander her leben und die ihre je eigenen Riten und Gewohnheiten pflegen. Was hat etwa die (Parallel-) Welt der Sekt-Empfänge mit der (Parallel-) Welt der Eck-Kneipen zu tun, die der online-Spielsüchtigen mit der eines Fußballvereins? Und in allen wird eine eigene Sprache gesprochen. Und warum gilt eigentlich woanders als touristische Attraktion (Chinatown in New York), was hier bedrohliche Parallelwelt sein soll?
3) Sie sagen, der türkische Ministerpräsident Erdogan hätte in seiner Kölner Rede "unmissverständlich" gefordert, "alle Türken in Deutschland, auch solche mit deutscher Staasangehörigkeit, [müssten] jetzt und für immer in Deutschland vom türkischen Staat verteten werden". Nun, vielleicht hat sich Herr Erdogan doch missverständlich geäußert, wenn der Inhalt seiner Rede auf diese Weise in den Medien verbreitet und diskutiert bzw. von Ihnen so verstanden wurde. Gesagt hat er jedenfalls: "Sie [die türkischen ZuhörerInnen] können sich im heutigen Deutschland, in Europa von heute, in der heutigen Welt, nicht mehr als ´der Andere´, als derjenige, der nur vorübergehend hier ist, betrachten, Sie dürfen sich nicht so betrachten (...). Selbstverständlich werden unsere Kinder Türkisch lernen. Das ist Ihre Muttersprache und es ist Ihr natürlichstes Recht, Ihre Muttersprache Ihren Kindern weitergeben. Jedoch würden Sie, wenn Sie die Sprache des Landes erlernen, in dem Sie leben, oder sogar noch einige Sprachen dazu, in jeder Hinsicht davon profitieren. (...) Es [würde] für Sie und für Ihre Kinder in jeder Hinsicht vorteilhaft sein, wenn Sie die Möglichkeiten maximal ausschöpfen, die das hiesige gute Schulsystem Ihnen bietet. (...) Weiter: Jahrelang hat eine Haltung vorgeherrscht, die durch eine Distanz gegenüber der Politik in diesem Lande, gegenüber der Außenpolitik, der Innenpolitik, der Sozialpolitik charakterisiert war. Doch sollte die türkische Gemeinschaft mit ihren drei Millionen Menschen in der Lage sein, in der deutschen politischen Landschaft einen Einfluss auszuüben, Wirkungen zu erzielen." Herr Erdogan fordert - in anderen Worten - seine "Landsleute" also dazu auf, sich in Deutschland einzubringen, sich als Teil der hiesigen Gesellschaft zu betrachten, die deutsche Sprache zu lernen, das Bildungssystem zu nutzen, sich hier politisch zu engagieren usw. Sowohl Wolfgang Schäuble als auch Frank-Walter Steinmeier haben Erdogans Rede deshalb übrigens als einen Appell für die Integration in Deutschland verstanden. Dass Erdogan darüber hinaus die Türkei als "Schutzmacht" der in Deutschland lebenden TürkInnen dazustellen versucht, ist nicht weiter verwunderlich angesichts des Umstandes, dass etwa die Hälfte von ihnen als türkische Staatsangehörige wahlberechtigt sind. Auch die Bundesregierung kümmert sich übrigens um die Belange von deutschen "Volkszugehörigen" - mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit - im Ausland. Wenn sich viele in Deutschland lebende TürkInnen an der Türkei orientieren, dann ist das auch eine Folge dessen, dass sie sich in der Bundesrepublik nicht auf- bzw. angenommen und durch die deutsche Politik nicht vertreten fühlen. Angesichts immer wiederkehrender populistischer, ausgrenzender Debatten und immer neuen Gesetzesverschäfungen, die die Rechte von MigrantInnen beschneiden, verundert dies nicht.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen meine Sicht zu den von Ihnen angesprochenen Fragen verdeutlichen. Sofern Sie an weiteren Informationen und Positionen der Linken interessiert sein sollten, möchte ich Sie gerne auf das Integrationskonzept der Fraktion DIE LINKE. verweisen, das Sie hier einsehen / downloaden können:
http://dokumente.linksfraktion.net/pdfdownloads/7756900368.pdf
Mit freundlichen Grüßen,
Inge Höger MdB