Frage an Helmuth Markov von Otto H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Markov,
Wie ist inzwischen der Verhandlungsstand bei den Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei fortgeschritten?
Sehr geehrter Herr Hinze,
herzlichen Dank für Ihre Frage.
Die "Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei" sind ein sehr weit reichendes Thema, daher bitte ich um Verständnis, wenn ich in meiner Antwort über abgeordnetenwatch nicht auf alle Aspekte gebührend eingehen kann.
Im Hinblick auf die Beziehungen EU-Türkei, ist zunächst ein kurzer Blick auf ihre wechselvolle Geschichte wichtig. Die Türkei hat inzwischen seit mehr als 40 Jahren einen besonderen Status in den Außenbeziehungen der Europäischen Union bzw. ihren Vorgängerinnen. So wurde zwischen der Türkei und der EWG bereits 1963 ein Assoziierungsabkommen geschlossen, das der Türkei auch eine Mitgliedschaft in der Wirtschaftsgemeinschaft in Aussicht stellte. Während der Ost-West-Blockkonfrontation sollte damit insbesondere die politische und militärische Rolle der Türkei an der Südflanke der Sowjetunion gestärkt und abgesichert werden.
Mit dem Zollabkommen von 1996 wurde zum ersten Mal eine Zollunion zwischen der EU und einem Nichtmitgliedsland der EU hergestellt. Im Ergebnis des Beschlusses des Europäischen Rates vom Dezember 2004 hat die EU am 3. Oktober 2005 offiziell die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eröffnet. Erklärtes Ziel dieser Verhandlungen ist die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei, auch wenn die Gespräche "ergebnisoffen" geführt werden. Das heißt, ein EU-Beitritt der Türkei muss auch am Ende der Verhandlungen nicht zwingend erfolgen. Hintergrund dieser aus meiner Sicht recht zwiespältigen Situation ist, dass zwar einerseits alle EU-Mitgliedstaaten der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zugestimmt haben, andererseits jedoch ein tatsächlicher EU-Beitritt der Türkei nach wie vor heftig umstritten ist und bleibt, sowohl zwischen den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten als auch insbesondere in den Bevölkerungen verschiedener Länder. Hier spielen die kulturellen Unterschiede, soziale und Überfremdungsängste, aber auch offen rassistische Positionen eine Rolle. Es gibt zum Teil starke politische Kräfte, die einen EU-Beitritt der Türkei zum Gegenstand von Volksentscheiden machen wollen.
Der erste Schritt der Beitrittsverhandlungen, das sogenannte Screening, ist seit Herbst 2006 abgeschlossen. Er beinhaltete einen Vergleich des bestehenden europäischen Rechts mit dem des Beitrittskandidaten. Seit dem wurden Verhandlungen zu acht (von 35) Kapiteln eröffnet, und zwar zu den Bereichen: Unternehmen und Wirtschaft, Finanzkontrolle, Statistik, Transeuropäische Netze, Verbraucher- und Gesundheitsschutz, Urheberrecht, Gesellschaftsrecht. Das Kapitel Wissenschaft und Forschung konnte abgeschlossen werden.
Da die Türkei bislang ihrer Verpflichtung zur vollständigen und nicht-diskriminierenden Umsetzung des Anpassungsprotokolls zum Assoziierungsvertrag nicht nachgekommen ist, (hier geht es um den Zugang für Schiffe und Flugzeuge der Republik Zypern zu türkischen Häfen und Flughäfen) hat der Rat im Dezember 2006 u. a. beschlossen, insgesamt acht Verhandlungskapitel solange nicht zu öffnen, bis die Türkei ihre Verpflichtungen erfüllt. Die EU-Kommission berichtet dem Rat jährlich über die Entwicklungen auch in dieser Frage.
Am 18. Februar 2008 hat der Rat die überarbeitete Beitrittspartnerschaft mit der Türkei verabschiedet, in der die kurz- und mittelfristigen Prioritäten für weitere Reformen in der Türkei festgelegt sind. Weitere Fortschritte hängen demnach wesentlich von den erforderlichen politischen Reformen und ihrer Umsetzung in der Türkei ab.
Am 5. August 2008 hat die EU-Kommission den sogenannten Fortschrittsbericht und die Erweiterungsstrategie für 2008 - 2009 vorgelegt. Sie stellt darin fest, dass es zwar in einigen Bereichen begrenzte Fortschritte gegeben hat, in anderen zentralen Bereichen die Reformen fortgesetzt werden müssen. Zum Beispiel betrifft das den Umgang mit den Kurden in der Türkei sowie Fragen der Rechtsstaatlichkeit. Im Unterschied zu den laufenden Verhandlungen mit dem Beitrittkandidaten Kroatien hat die Kommission kein Zieldatum für das Ende der Verhandlungen angekündigt.
Eine ausführliche Darstellung des Verhandlungsstandes zwischen der EU und der Türkei in den Beitrittsverhandlungen finden Sie in dem "Türkei Fortschrittsbericht 2008", der erst kürzlich zusammen mit dem Strategiepapier zur Erweiterungsstrategie der EU 2008 - 2009 veröffentlicht wurde. Sie finden beides u. a. auf der Webseite der Europäischen Kommission.
Gestatten Sie, dass ich an dieser Stelle auch einige Ausführungen zu den Positionen der Europaabgeordneten DER LINKEN im Europäischen Parlament anfüge.
DIE LINKE im Europäischen Parlament hat der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zugestimmt. Damit wollten wir auch diejenigen Kräfte in der Türkei stärken, die den Beitritt ihres Landes zur EU befürworten und im Beitrittsprozess vor allem eine Chance sehen, die notwendigen gesellschaftspolitischen Wandlungsprozesse im eigenen Land zu befördern.
Wir beantworten die Frage nach dem Recht der Türkei, Vollmitglied der EU zu werden, grundsätzlich positiv. Die Türkei ist Mitglied des Europarates, der OSZE und anderer europäischer Organisationen. Abgesehen davon ist für uns wichtig, dass es kein religiöses Kriterium für die Bewertung eines Beitrittskandidaten gibt und auch nicht geben darf. Die EU ist ja kein exklusiver "christlicher Klub", sondern ihrem eigenen Anspruch nach eine Wertegemeinschaft, d. h. Werten wie Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder der Achtung der Menschenrechte verpflichtet. Zum Wertekatalog der EU gehört auch die Trennung von Kirche und Staat sowie das garantierte individuelle Recht auf freie Religionsausübung. Bereits heute leben in der EU mehr als 15 Millionen Menschen islamischen Glaubens.
Die Türkei ist gegenwärtig weit von der Erfüllung der EU-Beitrittskriterien entfernt. Wir kritisieren, dass die Türkei nach der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen den gesellschaftspolitischen Reformprozess nicht fortgesetzt hat bzw. sogar Rückschritte zu verzeichnen sind. Nach wie vor werden in der Türkei Bürger- und Menschenrechte sowie die Rechte von Minderheiten systematisch verletzt. Die Türkei setzt auf eine militärische Lösung der Kurdenfrage statt die politische Dimension des Konflikts anzuerkennen und die Entwicklung der kurdischen Region voranzubringen. Unvereinbar mit demokratischen Standards ist aus unserer Sicht die zentrale Rolle, die das Militär in der türkischen Politik spielt. Weiteren grundsätzlichen Reformbedarf sehen wir im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter in der türkischen Gesellschaft. Für uns ist zudem inakzeptabel, dass die Türkei ein Mitgliedsland der EU, nämlich Zypern, nicht völkerrechtlich anerkennt, Zypern aus der Anwendung des Zollabkommens mit der EU ausschließt und nicht bereit ist, seine Besatzungstruppen aus dem Norden der Insel abzuziehen.
Die gesellschaftlichen Prozesse, die der Türkei die Erfüllung der Aufnahmekriterien möglich machen, werden wohl noch viele Jahre in Anspruch nehmen. Doch auch die EU selbst muss sich weiter verändern. Unseres Erachtens bedarf es einer grundlegender Reform der EU, bevor sie die Herausforderungen, die mit einer Aufnahme der Türkei verbunden sind, bewältigen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Helmuth Markov