Frage an Hans-Werner Ehrenberg von Martin W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ehrenberg,
wie Sie sicherlich wissen, gehört fast ein Drittel der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an. Trotzdem gibt es immer noch einige gesellschaftliche Bereiche, in denen Konfessionslose benachteiligt oder sogar offen diskriminiert werden. Ich würde gerne von Ihnen erfahren, inwieweit Sie sich im Parlament wie auch im Wahlkreis für die Belange dieser Bevölkerungsgruppe einsetzen werden. Konkret möche ich meine Fragen auf den Bereich der sozialen Einrichtungen konzentrieren:
Für Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft gilt ein eigenes Arbeitsrecht mit besonderen „Loyalitätspflichten“. So werden in „kirchlichen“ Krankenhäusern oder Altenheimen, obwohl diese in der Regel zu 100% aus den Sozialkassen finanziert werden, den Beschäftigten wichtige Grundrechte vorenthalten. Konfessionslose oder andersgläubige Ärztinnen, Altenpfleger oder Hausmeister finden dort unter Umständen keine Anstellung. In katholischen Einrichtungen kann sogar die Wiederverheiratung nach einer Scheidung zur Entlassung führen.
- Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dahingehend geändert wird (§ 9), dass in Sozialeinrichtungen, die von allen Bürgerinnen und Bürgern genutzt werden, Konfessionslose und Andersgläubige nicht länger diskriminiert werden können?
- Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das Betriebsverfassungsgesetz dahingehend geändert wird (§ 118, 2), dass in Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft zukünftig dieselben Regelungen greifen wie in normalen Tendenzbetrieben (Medien, Parteien usw.)?
Sehr geehrter Herr Werner,
Die Kirchen und kirchlichen Träger wie Caritas und Diakonie gehören zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Seit Mitte der 1970er Jahre gehen sie bei der Gestaltung ihres Arbeitsrechtes einen eigenen, immer wieder diskutierten und insbesondere von den Gewerkschaften kritisierten Weg. Die Rechtsprechung stellt das kirchliche Arbeitsrecht nicht in Frage, verlangt aber eine sorgfältige Grundrechtsabwägung.
Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ist in der Verfassung verankert (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV). Es räumt ihnen die Möglichkeit ein, ihre Arbeitsbedingungen selbst zu regeln. Von dieser Möglichkeit haben die Kirchen Gebrauch gemacht und mit dem so genannten Dritten Weg ein eigenständiges System zur kollektiven Festsetzung von Arbeitsbedingungen geschaffen. Danach werden die Grundbedingungen des Arbeitsverhältnisses in allgemeinen Richtlinien oder Ordnungen festgelegt (Evangelische Kirche: „Arbeitsvertragsrichtlinien“, Katholische Kirche: „Arbeitsvertragsordnungen“), deren Erstellung kirchlichen Gremien obliegt, die paritätisch aus gewählten und weisungsungebundenen Vertretern der Mitarbeiter und Vertretern der Dienstgeber besetzt sind. Diese schließen unter anderem Arbeitskämpfe aus und verpflichten die Mitarbeiter zu einer besonderen Loyalität. Für die kirchlichen Arbeitsverhältnisse gilt das allgemeine Arbeitsrecht, insbesondere das Kündigungsschutzgesetz. Dies ist allerdings im Lichte des verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen auszulegen.
Das Selbstbestimmungsrecht umfasst auch das Recht, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eigene Mitarbeitervertretungsstrukturen und -regeln zu schaffen (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Dementsprechend sind weder das Betriebsverfassungsgesetz noch die Personalvertretungsgesetze (Bund, Länder) anwendbar. Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche haben jeweils eigenständige Mitarbeitervertretungsregelungen geschaffen, die sich überwiegend an die Systematik des Personalvertretungsrechts anlehnen.
Die Kirchen haben zwischenzeitlich Anpassungen bzw. Änderungen innerhalb ihres selbständig geregelten Bereiches vorgenommen (wie es beispielsweise seitens der Deutschen Bischofskonferenz durch eine Überarbeitung der Grundordnung des kirchlichen Dienstes des VDD im Juni 2011 geschehen ist oder seitens der EKD durch die Beschlüsse der Synode vom November 2011). Am Dritten Weg halten sie ausdrücklich fest.
Zu Ihrer ersten Frage:
Der Staat sollte nicht vorgeben, wen die Religionsgemeinschaften beschäftigen. Zu Recht bestehen bereits in den beiden großen Kirchen Regelungen, welche für bestimmte Kategorien von Beschäftigten die Einstellung eines größeren Personenkreises ermöglichen, etwa Mitglieder jeder christlichen Konfession. Die Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft sollten sich in ihrer Tätigkeit auf ihre Kernaufgabe, die Verkündung des Evangeliums, konzentrieren. Daran sollten ihre Aktivitäten (auch die unternehmerischen) gemessen werden. Eine völlig professionalisierte Diakonie/Caritas, ohne dass die Gemeinden vor Ort sich einbringen, eine Entkopplung von der Gemeindearbeit täte dem kirchlichen Wohlfahrtswesen nicht gut. Die Sonderregelungen bezüglich der Kirchen kollidieren nicht mit dem Antidiskriminierungsrecht: der Ausnahmetatbestand für Religionsgemeinschaften im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird von der Europäischen Kommission nicht beanstandet.
Die Liberalen verfolgen aufmerksam die neue Dynamik auf diesem Gebiet, und sind für Gespräche mit den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden als wichtige zivilgesellschaftliche Faktoren offen.
Zu Ihrer zweiten Frage:
Dass eine körperschaftlich verfasste Religionsgemeinschaft ein besonderes kollektives kirchliches Arbeitsrecht für ihre Arbeitnehmer erlassen kann, ist Ausfluss des sog. kirchlichen Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG/137 Abs. 3 WRV. Somit ist die Existenz eines kircheneigenen Arbeitsrechts eine Ausprägung der Religionsfreiheit. Allerdings sind Reformen in diesem Bereich notwendig. Eine Stärkung der Mitarbeitervertretungen ist hier nur ein Beispiel. Insgesamt geht es im Rahmen der sog. Dienstgemeinschaft um die Möglichkeiten einer angemessenen Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten. Nur wenn dies gewährleistet wird, ist ein Streikverbot auf die Dauer gerechtfertigt.
Trotz Zwänge der Ökonomisierung im sozial-karitativen Bereich sollten die Kirchen ihren moralischen Ansprüchen gerecht werden.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Werner Ehrenberg, MdB