Frage an Franziska Brantner von Tim G. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Sehr geehrte Frau Brantner,
vielen Dank zunächst, dass Sie als Abgeordnete Verantwortung für unser Gemeinwohl übernehmen und sich unter anderem für die Wahrung der Demokratie in anderen europäischen Ländern wie zum Beispiel Ungarn engagieren. So gehören Sie zu den Erstunterzeichnern einer Online-Petition, die sich gegen Maßnahmen einiger Regierung allen voran Ungarns richtet (https://www.change.org/p/european-commission-verteidigt-unsere-demokratie-in-der-corona-krise). In dem Text heißt es, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán habe einen Ausnahmezustand verhängt, der das Parlament auf unbestimmte Zeit außer Kraft setze. Dies erlaube ihm, per Dekret zu regieren und Wahlen auszusetzen. Das Gesetz bestrafe auch "fake news" und “Panikmache” über Corona mit bis zu 5 Jahren Gefängnis - ein Instrument, das auch gegen kritische Journalistinnen jeglichen Geschlechts eingesetzt werden könne.
Dazu hätte ich dann doch ein paar Fragen: Inwiefern ist das Parlament, also die Ungarische Nationalversammlung "außer Kraft" gesetzt? Ist sie aufgelöst worden oder hat sie keine Befugnisse mehr? Hat die Nationalversammlung nicht sogar ausdrücklich die Befugnis, den Notstand zu beenden? Und wer hat dieses Gesetz denn beschlossen, die Regierung oder das Parlament? Haben Sie vor Unterzeichnung der Kampagne mal Artikel 53 der Ungarischen Verfassung angeschaut, die im Netz mindestens auch auf Englisch verfügbar ist? Wo steht dort, dass durch Feststellung eines Notstands durch die Regierung das Parlament außer Kraft gesetzt werde? Steht dort nicht vielmehr, dass im Gegenteil nach spätestens 15 Tagen das Parlament diese Maßnahmen bestätigen muss und hat die ungarische Nationalversammlung nicht genau das getan?
Wann enden denn die Befugnisse deutscher Behörden, per Verordnung oder Allgemeinverfügung und ohne Beteiligung eines Parlamentes zur Seuchenbekämfung Grundrechte einzuschränken? Wann wurde ein aktuelles Parlament in Deutschland befragt, ob es diese Maßnahmen billigt oder gar verlängern will? Ich betone hier aktuelle Parlamente, weil natürlich ein historischer Bundestag irgendwann einmal das Infektionsschutzgesetz einschließlich der darin enthaltenen Eingriffsermächtigungen verabschiedet hat. Aber warum sind diese Befugnisse denn nicht befristet? Agieren die Ministerpräsidenten z.B. von Bayern und Baden-Württemberg derzeit nicht völlig an ihren Parlamenten vorbei und zwar unbefristet und gehören demnach in eine Reihe mit Orbán oder sind sogar noch schlimmer? Kann es sein, dass man in Bezug auf Ungarn andere Maßstäbe bei der Beurteilung der Rechtsstaatlichkeit ansetzt als für andere Länder der EU? Und wenn ja, warum?
Finden Sie nicht, dass es sehr demokratisch wäre, angesichst der derzeitigen Erfahrungen die Befugnisse der Regierungen in Deutschland zu befristen und eine Verlängerung unter Parlamentsvorbehalt zu stellen, wie dies in Ungarn der Fall ist?
Trifft es zu, dass die Strafvorschrift in dem Gesetz in Ungarn ausdrücklich für die massenhafte Verbreitung von Falschmeldungen vorgesehen ist, deren Verbreitung geeignet ist, die Wirksamkeit der derzeitigen Maßnahmen gegen die Pandemie zu beeinträchtigen (siehe Verweis auf den Text, den Ihr Parteifreund Daniel Freund in seiner Antwort hier zur Verfügung gestellt hat)?
Wie kommen Sie darauf, dass dies geeignet sein könnte, kritische Journalisten unter Druck zu setzen? Wir haben in Deutschland ähnlich konstruierte Strafbestimmungen, die das Verbreiten von Lügen z.B. über die Verbrechen der NS-Diktatur unter Strafe stellen, wenn diese geeignet sind, den öffentliche Frieden zu gefährden. Ist Ihnen schon untergekommen, dass kritische Journalisten damit unter Druck gesetzt wurden?
Haben Sie bereits Ihre Möglichkeiten als Parlamentarierin genutzt, um die Hintergründe der Vorgänge in Ungarn zu erkunden, die Sie mit Ihrer Unterzeichnung anprangern? Haben Sie beispielsweise eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet, wie die Einschätzung der Vorgänge dort ist? Wir Steuerzahler finanzieren der Politik eine Botschaft u.a. in Budapest, in welcher kluge Beamte sitzen und wöchentlich sehr sachliche und fundierte Berichte nach Berlin schicken, die die Lage im jeweiligen Gastland behandeln. Ich für meinen teile zahle dafür gern, erwarte allerdings auch, dass die Erkenntnisse daraus für kluges politisches Handeln genutzt werden. Also haben Sie oder Ihre Fraktion sich mal nach der dortigen Einschätzung erkundigt? Dazu steht Ihnen als Abgeordnete ja ein Fragerecht zu? Dafür haben Sie als Fraktion Mitglieder im Auswärtigen Ausschuss. Ist das Thema dort mal behandelt worden und sieht es die Bundesregierung aufgrund der Berichte der Deutschen Botschaft in Budapest auch so, dass in Ungarn die Pressefreiheit außer Kraft sei oder das Parlament "auf unbestimmte Zeit außer Kraft" gesetzt sei?
Wann haben Sie zuletzt mit einem Ungarn über die aktuellen Vorgänge in seinem Land gesprochen? Wie erklärt sich, dass unter den Erstunterzeichnern kein einziger Ungar zu finden ist, dafür aber sehr viele Abgeordnete aus Deutschland?
Sehr geehrter Herr Gerber, entschuldigen Sie die späte Antwort.
Das Ermächtigungsgesetz ist nicht mehr in Kraft. Jedoch gibt es weiterhin Einschränkungen der Rechte von Minderheiten, der Opposition, der Meinungs- und Pressefreiheit, die uns große Sorgen bereiten. Dies hat auch die EU-Kommission in ihrem Rechtsstaatsbericht festgestellt: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/?qid=1602582109481&uri=CELEX%3A52020SC0316. Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 laufen gegen Ungarn und Polen wegen der Auswirkungen von Reformen auf die Unabhängigkeit der Justiz. Die Wirksamkeit der Ermittlungsverfahren, der Strafverfolgung und der Verurteilung in Korruptionsfällen ist in Ungarn stark eingeschränkt. Angesichts des Fehlens von Rechtsvorschriften und Transparenz bei der Verteilung staatlicher Werbung wurden erhebliche Mittel für staatliche Werbung regierungsfreundlichen Unternehmen zugewiesen, wodurch der Regierung die Tür geöffnet wurde, um indirekten politischen Einfluss auf die Medien auszuüben. Unabhängige Medienunternehmen werden systematisch behindert und eingeschüchtert, während ein Trend zur wirtschaftlichen Übernahme solcher Unternehmen zusätzlich Besorgnis hervorruft. Der Gerichtshof der Europäischen Union stellte im Juni 2020 fest, dass in Ungarn ein Gesetz von 2017 über die Transparenz von mit ausländischen Mitteln finanzierten Organisationen der Zivilgesellschaft unvereinbar mit dem freien Kapitalverkehr und dem Recht auf Vereinigungsfreiheit ist.
Ein Rechtsgutachten (https://danielfreund.eu/wp-content/uploads/2021/07/220707_RoLCR_Report_digital.pdf) bestätigt, dass EU-Gelder bei dieser ungarischen Regierung nicht sicher sind. Der Aufbauplan der ungarischen Regierung berücksichtigt nicht die Empfehlungen der Kommission zur Unabhängigkeit der Justiz, zur Korruptionsbekämpfung und zu Transparenzbemühungen. Wir fordern eine Beteiligung der Zivilgesellschaft bei der Auswahl und der Umsetzung der geförderten Projekte sowie unabhängige Kontrollen, um Vetternwirtschaft oder Nepotismus zu vermeiden. Die ungarische Regierung muss sicherstellen, dass EU-Gelder nicht dafür eingesetzt werden die Grundrechte der EU einzuschränken, indem sie etwa in die Umsetzung des Anti-LGBTIQ-Gesetzes fließen. Das fordern fraktionsübergreifend Abgeordnete im Europäischen Parlament: https://extranet.greens-efa.eu/public/media/file/1/7147. Einen Entschließungsantrag dazu haben auch zahlreiche ungarische Abgeordnete unterzeichnet: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2021-0412_DE.html.
Mit freundlichen Grüßen, Franziska Brantner