Frage an Florian Toncar von Steve L. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Lieber Herr Toncar,
eine kleine Frage: wie haben Sie es geschafft, das fast 500 seitige Vertragsdoukment innerhalb von 10 Tagen vollständig zu studieren und zu durchdenken?
Die finale Version lag ganze 10 Tage vor Ratifikation des deutschen Bundestages vor.
Wie können Sie es vereinbaren, dass mit diesem "Reformvertrag" (faktisch eine Verfassung) der Bundestag vollends zum Spielball der Brüsseler Bürokratie wird? Sehen Sie die Demokratie noch gewährleistet? Wie legitimieren Sie künftig Ihre Rolle als Durchlauferhitzer (pardon: Abgeordneter)?
Sehen Sie die individuelle Freiheit des Bürgers (die ist auch bei unnötiger Gesetzgebung im Privatrecht tangiert) noch gewährleistet? Sollte es nicht im Interesse einer liberalen Partei sein, dem Individuum die grösstmögliche Freiheit zu beschaffen? Wird gerade die politische Freiheit (Gesetzgebungsprojekte faktisch durch Bürokraten) durch den Reformvertrag noch gewahrt?
Ein wirklich interessierter Europarechtler
Sehr geehrter Herr Lutzmann,
Ihre Fragen beantworte ich wie folgt:
1. Frist zur Prüfung des Vertrags von Lissabon:
Da ich mich jahrelang intensiv mit EU-Recht befasst habe, hat die Analyse des Vertrags von Lissabon für mich kein Problem dargestellt. Der überwiegende Teil der Bestimmungen stammt aus der über einen langen Zeitraum vom Verfassungskonvent ausgehandelten EU-Verfassung, die leider an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte.
Im Vorfeld der Beratungen des Deutschen Bundestags über den Vertrag von Lissabon fanden neben diversen Vorträgen und Unterrichtungen vier umfangreiche Expertenanhörungen zu den Auswirkungen der unterschiedlichen Bereiche des Vertrags von Lissabon statt (am 28.11.2007 im Rechtsausschuss zum europäischen Strafrecht, am 20.02.2008 im Europa-Ausschuss zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, am 10.03.2008 im Europa-Ausschuss zu grundlegenden institutionellen Änderungen sowie am 05.03.2008 im Europa-Ausschuss zum Bereich Innen und Justiz). Somit wurden die Abgeordneten keineswegs von einer vermeintlich kurzfristigen Vorlage des Dokuments überrascht, das übrigens auch nicht 500 sondern nur 190 Seiten einschließlich der Anhänge und Protokolle umfasst. Der Bundestag hatte ausreichend Zeit, die Inhalte des Vertrags nachzuvollziehen.
Am 28.02.2008 wurde der Vertrag von Lissabon, der seiner Rechtsnatur nach ein Änderungsvertrag zu den bestehenden Verträgen ist, dem Deutschen Bundestag zugeleitet (Bundestagsdrucksache 16/8300). Bis zur Ratifikation des Vertrages am 24.04.2008 blieben also zwei Monate Zeit. Auch wenn die Bundesregierung eine konsolidierte Fassung des Vertrags von Lissabon bedauerlicherweise erst spät vorlegte, war schon mindestens seit Mitte Januar 2008 eine von Wissenschaftlern vorgelegte Textfassung erhältlich, anhand derer die durch den Vertrag von Lissabon geänderten Grundlagenverträge im Fließtext klar nachvollziehbar waren. Darauf habe ich selbstverständlich zurückgegriffen. Zudem bekommt der Bundestag auch bei seiner sonstigen Arbeit bei keiner Gesetzesänderung eine konsolidierte Fassung, sondern arbeitet immer mit Änderung bereits bestehender Gesetzestexte. Damit umzugehen gehört zum Alltagsgeschäft und zum Grundhangwerkszeug jedes Abgeordneten.
2. Demokratische Legitimation der EU
Der Bundestag erhält wie alle nationalen Parlamente durch den Vertrag neue Kompetenzen. Beispielsweise können die 2/3 der nationalen Parlamente gemeinsam Richtlinienentwürfe der Kommission zurückweisen. Auch das Europäische Parlament erfährt durch den Vertrag eine deutliche Aufwertung, was zu einer Verbesserung der demokratischen Legitimation der EU führt.
Zum Thema Bürokratieabbau ist festzustellen, dass es sich dabei auch um eine große und bedeutende Herausforderung für die EU handelt. Das gilt aber auch für alle anderen Ebenen der Politik. Ein spezifisch europäisches Problem ist Bürokratie somit nicht. Vielmehr ist sie Folge überzogener Ansprüche an den Staat.
3. Einschränkungen der individuellen Freiheiten
Ihre Frage, ob die individuelle Freiheit des Bürgers nach Inkraftreten des Vertrags noch gewährleistet ist, möchte ich klar bejahen. Im Bereich Innen und Justiz sind einige Schritte zur Vergemeinschaftung von Teilbereichen unternommen worden. Auch wenn aus liberaler Perspektive nicht alle Neuerungen wünschenswert sind und die FDP daher im Zuge des Ratifikationsprozesses im Deutschen Bundestag einen entsprechenden Entschließungsantrag (Bundestagsdrucksache 16/8927) vorgelegt hat, muss insgesamt festgehalten werden, dass die Schutzbereiche der individuellen Freiheitsrechte durch den Vertrag nicht ausgehöhlt werden. Neben der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta schafft der Vertrag von Lissabon auch die Voraussetzung für den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Daher hat die FDP dem Vertrag zugestimmt.
Mit freundlichen Grüßen
Florian Toncar