Frage an Florian Toncar von Marko N. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrter Herr Toncar,
Guido Westerwelle erklärte 2003, man müsse das starre System des Flächentarifvertrags durchbrechen. Der Flächentarifvertrag sei eine der Hauptursachen für die hohe Arbeitslosigkeit. Tatsächlich, ist er das? Bitte erklären und belegen Sie das doch einmal!
Längst gibt es die Möglichkeit für einzelne Betriebe über Betriebsvereinbarungen von den Tarifverträgen abzuweichen. Längst gibt es die Möglichkeit, Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen einzustellen. Von beiden Möglichkeiten macht die Wirtschaft seither massiv Gebrauch. Ich kann mich noch gut an die Zeitungsmeldungen erinnern, welche immense Vorteile sich damit für den Arbeitsmarkt ergeben würden. Von der Schaffung dieser Möglichkeiten, zeigten sich dann aber die Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Wirtschaftwachstum erschreckend unbeeindruckt. Die Erfahrung hat also gezeigt, dass die Lockerung der Flächentarifverträge für die gesamtdeutsche Lage überhaupt nichts gebracht hat. Nun kann man sich fragen, ob die Lage der deutschen Wirtschaft tatsächlich so schlecht ist, wie von den Wirtschaftsverbänden im Allgemeinen behauptet wird und ob die anwachsende Arbeitslosigkeit tatsächlich mit der wirtschaftlichen Lage und insbesondere mit den Flächentarifverträgen zu tun hat. Man kann sich also fragen, ob das verschriebene Medikament das falsche ist. Man kann aber auch – wie bei FDP, Union, Grünen und SPD üblich – auf derlei Überlegungen und Diskussionen ganz verzichten und einfach die Dosis der Medikamentenabgabe erhöhen. Die Klage über die Starrheit der Flächentarifverträge und darüber, sie seien schuld am Niedergang vieler Betriebe, hält der Nachprüfung nicht stand. Schauen wir uns das Jahr 2003 an. Nur 43% der Betriebe und nur 61% der Beschäftigten fallen unter Flächentarifverträge! Im Osten liegt der Anteil sogar noch wesentlich niedriger. Gänzlich ohne Tarifvertrag arbeiten 55% aller Betriebe und fast jeder dritte Beschäftigte. Sie können die Zahlen beim Institut der deutschen Wirtschaft Köln nachlesen (Deutschland in Zahlen, Ausgabe 2003, S. 110).
Muss der deutsche Arbeitsmarkt tatsächlich flexibler, deregulierter werden als er es ist? 2002 gab es in Deutschland 34 Millionen Arbeitnehmer. Zur selben Zeit hatte die Gruppe der Arbeitslosen einen Zugang von 7,4 Millionen und einen Abgang von 7,2 Millionen. Der Wechsel von Arbeitskräften und Arbeitsplätzen ist massiv vorhanden. Zur selben Zeit waren 35% der unter zwanzigjährigen und 25% der unter fünfundzwanzigjährigen Arbeitnehmer zeitlich befristet angestellt. Öffnungsklauseln für Tarifverträge sind keine graue Theorie. 35% der Firmen und 22% der Dienststellen nutzen sie bereits. Laut OECD-Studie „Employment Report 1999“ schneidet Deutschland hinsichtlich des Grades staatlicher Regulierung des Arbeitsmarktes günstiger, also deregulierter ab, als andere EU-Länder und liegt damit noch vor Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Wie können Sie bei diesen Tatsachen behaupten, wir seinen zu unflexibel? Übrigens konnten weder die OECD, noch der Internationale Währungsfonds (IWF) einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Regulierungsgrad der Arbeitsmärkte und der Höhe der Arbeitslosigkeit feststellen. Sehen Sie wirklich eine Notwendigkeit, die im Grundgesetz festgeschriebene Möglichkeit für die Schaffung von Tarifverträgen umzukrempeln? Was sagen Sie dazu?
Prof. Dr. Thomas Dieterich, ehemaliger Präsident des Bundesarbeitsgerichts und früherer Richter am Bundesverfassungsgericht bemerkte am 17.12.2003 in der Süddeutschen Zeitung: „Nicht alles, was in das Konzept einer mehr oder weniger radikal gedachten Marktordnung zu passen scheint und theoretisch konsequent wäre, ist auch rechtlich möglich und gesellschaftlich akzeptabel. Es häufen sich die Indizien für den Verdacht, dass die Zunft der Ökonomen und die ihr verbundenen Journalisten die Rahmenbedingungen einer rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft weitgehend ignorieren, dass vor allem die Schimäre eines >homo oeconomicus< den Blick verstellt für die Bedeutung und den Wert kollektiver Interessensvertretung. Der aktuelle Streit um die Tarifautonomie bietet dafür besonders drastische Belege.“ Zwischen diesen Zeilen steht die begründete Angst vor einer Demontage der Verfassung! Was denken Sie über diese Äußerung?
Sie führen die Schweiz an und gehen von einem ursächlichen Zusammenhang zwischen des dort nicht vorhandenen Kündigungsschutzes und der niedrigeren Arbeitslosigkeit aus. Das sich die Schweiz in einer ganz anderen Lage befindet, scheint nicht der Rede wert. Warum vergleichen Sie Deutschland nur dann mit der Schweiz, wenn es um den Kündigungsschutz geht? Blicken Sie doch auch mal über die gemeinsame Grenze, wenn es um die Löhne geht, oder um direkte Demokratie und Volksentscheide! Die Löhne sind dort nämlich wesentlich höher und der Volksentscheid ist ohne Ausnahme bestimmter Themen an der Tagesordnung. Vergleichen wir die deutsche Volkswirtschaft doch z.B. einmal mit der Volkswirtschaft der USA. Dort existiert ebenfalls kein Kündigungsschutz. Die Wirtschaft ist deswegen nicht stabiler und jedermann kann sich an einer Hand ausrechnen, dass, würden die USA den Wohlstand ihrer Bürger nicht mit einem stetig immens wachsenden Schuldenberg unterstützen, es um die amerikanische Volkswirtschaft schlecht bestellt wäre!
Sie erklären mir in Ihrer Antwort, der Mindestlohn sei schädlich, weil der den Arbeitgebern einen Preis für die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeit diktiert, den diese gar nicht wert ist! Es ist der Firma DaimlerCrysler also zuviel abverlangt, einem Arbeiter für die Reinigung seiner Büro- und Produktionsstätten einen Mindestlohn von 1.200 € (wie von Oskar Lafontaine gefordert) zu bezahlen? Meine Frau verbringt jede Woche 37,5 Stunden mit dieser Tätigkeit. Wenn sie nachhause kommt, ist sie jedes Mal wie erschlagen. Für diese Tätigkeit bekommt sie Brutto 7,87 € die Stunde (Tariflohn!). Nach Abzug von Steuer und Abgaben verbleiben da gerade mal 680 €! Gut, sie wird in Steuerklasse V besteuert (welche die FDP laut Wahlprogramm auch abschaffen will!). Ein guter Freund von mir arbeitet in demselben Gewerbe. Ebenfalls 37,5 Stunden. Er hat als Alleinerziehender einen Sohn zu versorgen und ist steuerlich natürlich besser gestellt als meine Frau. Trotzdem bleiben ihm gerade einmal 950 € in der Lohntüte. Davon muss er 450 € Kaltmiete bezahlen. Für staatliche Hilfe zum Lebensunterhalt aber verdient er immer noch zuviel! Haben Sie schon einmal für so wenig Geld gearbeitet? Haben Sie schon einmal versucht, mit dieser Summe ihren Lebensunterhalt und den eines Kindes zu bestreiten? Und dieses Einkommen soll in Anbetracht des Aufwandes ungerechtfertigt sein? Wissen Sie überhaupt, von was sie da sprechen?
Sie behaupten, dass Arbeit mit garantierten Mindestlöhnen nicht nachgefragt würde! Ja glauben Sie etwa, die Firma DaimlerCrysler würde ihre Werke verdrecken lassen, wenn sie andernfalls ihren Reinigungskräften 200 – 300 € mehr bezahlen müsste? Natürlich würde diese Mehrzahlung den Gewinn schmälern. Aber das dürfte bei explodierenden Gewinnen kein großes Problem darstellen. Und wie sich über das statistische Bundesamt belegen lässt, explodieren die Gewinne nicht nur bei DaimlerCrysler! Da reden Sie von einem Ausgleich schlecht bezahlter Arbeitsplätze durch ein Bürgergeld! An sich eine gut klingende Angelegenheit. Aber sollen wir Steuerzahler tatsächlich die explodierenden Gewinne der Wirtschaft über die „Hintertür Bürgergeld“ mit Steuern subventionieren? Das kann doch nicht ihr Ernst sein. Die Arbeitnehmer müssen endlich wieder teilhaben können, an den explodierenden Gewinnen der Wirtschaft! Das wäre auch gut für die Kaufkraft und damit für den langsam vor sich hin sterbenden Binnenmarkt. Ihr Wahlversprechen, dass man die Kaufkraft mit dem Dreistufen-Steuersatz der FDP und verringerter Abgabenlast steigern könne, wird sich nicht auf die Kaufkraft nur unwesentlich auswirken. Oder glauben Sie, ich z.B. könnte es mir dann endlich leisten, den lange ersehnten „neuen“ Gebrauchtwagen zu kaufen, weil sie mir statt 15% Eingangssteuersatz alter Art dann 15% Eingangssteuersatz neuer Art abverlangen? Oder weil Sie den Grundfreibetrag um sagenhaft 36 € anheben wollen? Ja, wenn man viel verdient, dann bringt die von der FDP gewünschte Senkung des Spitzensteuersatzes um ganze 7% ein enormes Mehr im Geldbeutel. Aber mal im Ernst, Herr Toncar! Glauben Sie wirklich, dass sich so jemand noch ein drittes Auto in die Garage stellt, sich deswegen eine Motorjacht kauft, weil sie ihm 7% Steuern schenken? Auch essen wird derjenige nicht mehr, als er es vorher getan hat. Eines wird er sicherlich tun. Er wird mehr sparen, mehr spekulieren und aus dem mehr an Kapital ein vielfaches mehr an Gewinn machen, weil ja, wie wir alle wissen, allein das Kapital und nicht etwa die Arbeit wirklich reich macht!
Ich möchte an dieser Stelle nicht auch noch auf Ihre Ausführungen hinsichtlich Lebensarbeitszeit und Rente eingehen. Auch dazu hätte ich eine Menge Fragen, da mir Ihre Argumentation, wie auch die Argumentation des FDP-Parteiprogramms überhaupt, in Anbetracht der Fakten einfach nicht einleuchten will. Aber dies würde den Rahmen dieser Online-Aktion sprengen!
Mit freundlichen Grüßen,
Marko Neuwirth
Sehr geehrter Herr Neuwirth,
mit Verlaub, was Sie da schreiben ist keine Frage mehr, sondern ein Aufsatz, der mindestens 10 Fragen umfasst. Ich habe bereits eine Frage von Ihnen sehr ausführlich beantwortet. Jetzt auf Ihren Aufsatz einen noch längeren von meiner Seite folgen zu lassen, ist angesichts des kurzen Wahlkampfes zeitlich nicht drin. Im übrigen ist es für die anderen Besucher hier auf der Homepage nicht zwingend von Interesse, dies in der von Ihnen geforderten Ausführlichkeit geboten zu bekommen.
Gerne erläutere ich Ihnen meine Position telefonisch (07157/6796901). Das hat auch den Vorteil, dass Sie alle Anschlussfragen, die sich für Sie aus meiner Antwort ergeben, sofort loswerden können.
Mit freundlichen Grüßen
Florian Toncar