Frage an Eckart von Klaeden von Henning L. bezüglich Wirtschaft
Sehr geehrter Herr von Klaeden,
eigentlich bezieht sich meine Frage auf den ESM.
Zu folgenden Fragen erbitte ich eine Stellungnahme:
1. Frage: Im Artikel 8 des ESM-Vertrag wird das Grundkapital mit 700 Mrd. Euro festgelegt. Wie setzt sich dieses riesige Stammkapital zusammen und auf welcher Grundlage wurde es errechnet?
2.Frage: Im Artikel 10 "Änderung des Grundkapitals" "1. Der Gouverneursrat kann Änderungen des Grundkapitals beschließen und Artikel 8 … entsprechend ändern." Wie bitte, die 700 Mrd. Euro sind erst der Anfang und der ESM kann beliebig und unbegrenzt nachfordern?
3. Frage: Im Artikel 9 "Kapitalabrufe" steht geschrieben "… Die ESM-Mitglieder sagen hiermit bedingungslos und unwiderruflich zu, bei Anforderungen jeglichem … Kapitalabruf binnen 7 (sieben) Tagen nach Erhalt dieser Aufforderung nachzukommen." Finden sich nicht, dass es sehr unverschämt ist, bedingungslos und unwiderruflich irgendeine Forderung, welche wie Artikel 10 zeigt, beliebt hoch sein kann, zu stellen?
4.Frage: Artikel 27 "Rechtsstellung des ESM, Immunitäten und Vorrechte"
"2. Der ESM … verfügt über volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit für … das Anstrengen von Gerichts verfahren." "3. Der ESM, sein Eigentum, seine Finanzmittel und Vermögenswerte genießen umfassende gerichtliche Immunität…" "4. Das Eigentum, die Finanzmittel und Vermögenswerte des ESM sind von Zugriff durch Durchsuchung, Beschlagnahme, Einziehung, Enteignung und jede andere Form der Inbesitznahme … durch Regierungshandeln oder auf dem Gerichts-, Verwaltungs- oder Gesetzeswege befreit."
Artikel 30 "Immunität von Personen" "1. Die Gouverneursratsmitglieder, Direktoren und Stellvertreter und das Personal genießen Immunität von der Gerichtsbarkeit hinsichtlich ihrer … Handlungen und Unverletzlichkeit ihrer amtlichen Schriftstücke…"
Es handelt sich hier um eine vollständige Aushöhlung rechtsstaatlicher und demokratischer Prinzipien und um die Errichtung einer Finanzdiktatur. Verhindern Sie das!!!
MfG
H. Lentge
Sehr geehrter Herr Lentge,
vielen Dank für Ihre Fragen, die ich als Abgeordneter des Deutschen Bundestages und nicht als Staatsminister im Namen der Bundesregierung beantworte.
Ihren Fragen entnehme ich, dass Sie dem ESM-Vertrag kritisch oder ablehnend gegenüberstehen. Deshalb möchte ich zunächst erklären, weshalb ich den ESM-Vertrag für notwendig halte:
Die Staatsschuldenkrise ist die größte Belastungsprobe in der Geschichte der europäischen Integration. Für diese Situation gibt es keine einfachen und schnellen Lösungen. Europa muss diese Bewährungsprobe annehmen und bestehen. Auch Deutschland selbst hat ein sehr großes politisches und wirtschaftliches Interesse am Erhalt der Währungsunion. Der Euro ist neben dem Binnenmarkt ein Eckpfeiler der europäischen Integration und ein wesentlicher Faktor des wirtschaftlichen Erfolges Deutschlands der letzten Jahre. Unter anderem schafft unsere gemeinsame stabile Währung mehr Transparenz bei den Preisen und senkt die Transaktionskosten; Umtauschprobleme und Wechselkursschwankungen gehören in der Euro-Zone der Vergangenheit an. Davon profitieren Bürger und Unternehmen gleichermaßen.
Deshalb halte ich es für richtig, dass Deutschland zusammen mit anderen leistungsfähigen EU-Mitgliedern finanzielle Hilfen für Euroländer gewährt, die in die Krise geraten sind. Die Hilfen für Griechenland, Portugal und Irland werden geleistet, um die Eurozone insgesamt und die Weltwirtschaft vor den gravierenden ökonomischen Auswirkungen zu schützen, die mit einer ungeordneten Insolvenz dieser Länder verbunden wären. Ein solches Ereignis würde auch in Deutschland zu erheblichen Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlusten führen. Diese Einschätzung wurde bei jedem der drei Programme von der Troika aus IWF, EZB und Europäischer Kommission ausdrücklich bestätigt. Aber diese Hilfen sind auch an Bedingungen geknüpft. Die betreffenden Länder müssen sich verpflichten, umfangreiche Reformen durchzuführen und die Fehlentwicklungen der letzten Jahre zu korrigieren. Die Umsetzung dieser Maßnahmen wird strikt überwacht und die einzelnen Tranchen der Hilfen können nur ausgezahlt werden, wenn die notwendigen Reformschritte festgestellt werden können.
Nun zu Ihren konkreten Fragen:
Der Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) wurde von allen Mitgliedern der EU, die den Euro als Währung haben (ESM-Mitglieder), geschlossen. Er ermöglicht nunmehr dauerhaft, Finanzmittel zu mobilisieren und den Euro-Staaten, die schwerwiegende Finanzierungsprobleme haben oder denen solche Probleme drohen, unter strikten Auflagen Stabilitätshilfe bereitzustellen (Artikel 1 des Vertrages). Der ESM wird vom Gouverneursrat und einem Direktorium geleitet (Artikel 4 des Vertrages); der Gouverneursrat besteht aus den Finanzministern der ESM-Mitglieder, die jederzeit abberufen werden können (Artikel 5 des Vertrages). Jedes Mitglied des Gouverneursrats ernennt ein Mitglied (und stellvertretendes Mitglied) des Direktoriums, das ebenfalls jederzeit abberufen werden kann (Artikel 6 des Vertrages).
zu Frage 1:
Dem ESM wird zur Erfüllung seines Auftrags ein Stammkapital von 700 Mrd. € bereitgestellt, das unterteilt wird in eingezahlte Anteile von 80 Mrd. € zum Start und abzurufende Anteile in Höhe von 620 Mrd. €; er kann ein anfängliches maximales Volumen von 500 Mrd. € ausleihen. Diese Beträge sind das Ergebnis umfangreicher und detaillierter Beratungen innerhalb der Euro-Zone und mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF).
zu Frage 2:
Der Gouverneursrat kann das Stammkapital des ESM nicht „beliebig und unbegrenzt“ erweitern. Nur nach Maßgabe des Vertrages, wenn die Angemessenheit des Stammkapitals im Verhältnis zum Ausleihvolumen dies erfordern sollte, ist eine Erhöhung möglich (Artikel 10 des Vertrages). Überdies tritt ein solcher Beschluss erst in Kraft, wenn die Vertragsstaaten, die mindestens 90 % der ESM-Anteile repräsentieren, ihn ratifiziert haben. In Deutschland ist ein Beschluss des Bundestages erforderlich; dies haben Bundestag und Bundesrat am vergangenen Freitag im ESM-Finanzierungsgesetz geregelt.
zu Frage 3:
Die Kapitalabrufe (Artikel 9 des Vertrages) beziehen sich nicht auf eine Veränderung des Stammkapitals nach Artikel 10 des Vertrages, sondern auf die noch nicht eingezahlten Anteile des vereinbarten Stammkapitals nach Artikel 8 Absatz 2 des Vertrages.
zu Frage 4:
Die in Artikel 32 (nicht 27) und 35 (nicht 30) des Vertrages enthaltenen Bestimmungen zur Rechtsfähigkeit und Immunität des EMS, seines Vermögens und der für ihn handelnden Personen liegen im ureigenen Interesse der ESM-Mitglieder. So wird sichergestellt, dass der Auftrag und die hierfür eingesetzten Mittel der Euro-Länder auch ausschließlich den vertraglichen Zwecken zur Verfügung stehen und nicht etwa durch Finanzakteure angegriffen oder beeinträchtigt werden können. Wie sich aus meine eingangs erfolgten Darlegungen ergibt, können die handelnden Personen der Organe des ESM, also die Mitglieder des Gouverneursrats und des Direktoriums, jederzeit durch das entsendende ESM-Mitglied zurückgezogen werden. Daher sind Befürchtungen, durch die Bildung des ESM drohe eine Finanzdiktatur, gegenstandslos.
Mit freundlichen Grüßen
Eckart von Klaeden MdB