Frage an Dirk Wiese von Martin W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Wiese,
wie Sie sicherlich wissen, gehört fast ein Drittel der Bevölkerung keiner Religionsgemeinschaft an. Trotzdem gibt es immer noch einige gesellschaftliche Bereiche, in denen Konfessionslose benachteiligt oder sogar offen diskriminiert werden. Ich würde gerne von Ihnen erfahren, inwieweit Sie sich im Parlament wie auch im Wahlkreis für die Belange dieser Bevölkerungsgruppe einsetzen werden. Konkret möche ich meine Fragen auf den Bereich der sozialen Einrichtungen konzentrieren:
Für Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft gilt ein eigenes Arbeitsrecht mit besonderen „Loyalitätspflichten“. So werden in „kirchlichen“ Krankenhäusern oder Altenheimen, obwohl diese in der Regel zu 100% aus den Sozialkassen finanziert werden, den Beschäftigten wichtige Grundrechte vorenthalten. Konfessionslose oder andersgläubige Ärztinnen, Altenpfleger oder Hausmeister finden dort unter Umständen keine Anstellung. In katholischen Einrichtungen kann sogar die Wiederverheiratung nach einer Scheidung zur Entlassung führen.
- Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dahingehend geändert wird (§ 9), dass in Sozialeinrichtungen, die von allen Bürgerinnen und Bürgern genutzt werden, Konfessionslose und Andersgläubige nicht länger diskriminiert werden können?
- Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das Betriebsverfassungsgesetz dahingehend geändert wird (§ 118, 2), dass in Sozialeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft zukünftig dieselben Regelungen greifen wie in normalen Tendenzbetrieben (Medien, Parteien usw.)?
Sehr geehrter Herr Werner,
vielen Dank für Ihre Anfrage.
Ich kann die Notwendigkeit einer „Loyalitätspflicht" in kirchlichen Einrichtungen und die daraus resultierende Pflicht, Mitglied der jeweiligen Kirche zu sein, grundsätzlich gut nachvollziehen.
Als Sozialdemokrat ist es mir natürlich wichtig, dass die Loyalitätspflicht kein Einfallstor für willkürliche Kündigungen schafft. Deshalb begrüße ich die laufende deutsche und europäische Rechtsprechung, die der "Loyalitätspflicht" klare Grenzen setzt und eine verlässliche Struktur schafft. So hat etwa das Bundesarbeitsgerichts am 8. September 2011 (2 AZR 543/10) entschieden, dass die Kündigung eines Chefarztes eines katholischen Krankenhauses wegen dessen Wiederverheiratung als sozial ungerechtfertigt im Sinn des § 1 Kündigungsschutzgesetzist und die Kündigung damit für unwirksam erklärt. Zwar hat das Gericht eine Kündigung in diesem Fall für grundsätzlich möglich erachtet, aber auf eine Einzelfallprüfung abgestellt und zwar insbesondere auf die Frage, ob dem Loyalitätsverstoß eine hinreichend schweres Gewicht zukomme, was in diesem Fall zu verneinen war. Ich halte das für einen guten Mittelweg, da es auf der einen Seite das Interesse der Glaubensgemeinschaft an ihren grundsätzlichen Werten schützt, auf der anderen Seite aber auch den heutigen allgemeinen Lebensumständen gerecht wird. Ein solch schwerer Verstoß wurde übrigens ebenfalls nicht erkannt in einem Fall (EGMR, 23.09.2010 - 1620/03), in dem ein Kirchenmusiker ein außereheliches Verhältnis hatte und daraufhin von seinem Arbeitgeber gekündigt wurde. Sie sehen, selbst in Fällen in denen gegen sehr feste Werte einer Glaubensgemeinschaft, wie hier die Ehe in der katholischen Kirche, verstoßen wird, kann eine Kündigung nicht gerechtfertigt sein. Ich halte deshalb die gesetzlichen Regelungen für Tendenzbetriebe hinsichtlich der "Loyalitätspflicht" für ausreichend. Eine Änderung des AGG halte ich daher vorerst für nicht notwendig. Ich halte es aber für schwierig und bedenklich, wenn gerade in Zeiten des Fachkräftemangels bei Einstellungen religiöse Ansichten eine Rolle spielen. Deshalb begrüße ich ausdrücklich, dass viele kirchlichen Einrichtungen heutzutage auch konfessionslose Fachkräfte einstellen.
Mit besten Grüßen,
Dirk Wiese