Frage an Daniela Kolbe von Martin L. bezüglich Arbeit und Beschäftigung
Sehr geehrte Frau Kolbe,
am 22.5.2015 soll der Regierungsentwurf des „Tarifeinheitsgesetzes“ in 2. und 3. Lesung im Bundestag behandelt werden. Zahlreiche Verfassungs- und Arbeitsrechtler und auch der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages halten diesen Gesetzentwurf für verfassungswidrig. Tarifeinheit bei mehreren im Unternehmen agierenden Gewerkschaften ist gesetzlich nur dadurch realisierbar, dass einer von mehreren Tarifverträgen als der einzig gültige ausgewählt und die Mitglieder der anderen Gewerkschaften der aus dem auserwählten Tarifvertrag sich ergebenden Friedenspflicht unterworfen werden. Da die Folge eines wirksam von der Mehrheitsgewerkschaft abgeschlossenen Tarifvertrags u.a. die Friedenspflicht ist, haben während der Laufzeit weder die durch Mitgliedschaft in der Mehrheitsgewerkschaft an die Friedenspflicht gebundenen Beschäftigten noch die Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft noch die Unorganisierten ein Streikrecht. Dies nützt vor allem den Arbeitgebern. Das Streikrecht würde bei Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes faktisch massiv eingeschränkt. Hinzu kommt noch, dass aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung in Deutschland bekanntlich nur für tarifvertraglich regelbare Forderungen gestreikt werden darf. Da aus den o.g. Gründen nur die Forderungen der jeweiligen Mehrheitsgewerkschaft überhaupt zu konkreten Tarifabschlüssen führen könnten, wären Streiks der Minderheitsgewerkschaften unverhältnismäßig und auch deshalb von Arbeitsgerichten aufgrund arbeitgeber- oder auch mehrheitsgewerkschaftsseitiger Anträge bei Arbeitsgerichten relativ leicht verbietbar. Gewerkschaften, die aufgrund der o.a. Bestimmungen zukünftig keine Tarifverträge mehr durchsetzen können, sind mangels Attraktivität mittelfristig dem Untergang geweiht. Wollen Sie dies wirklich ?
Bitte teilen Sie mit, ob Sie zu dieser faktischen Einschränkung des Streikrechts zustimmen oder ob Sie dies ablehnen wollen.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Lesch
Leipzig
Sehr geehrter Herr Lesch,
ich danke Ihnen für die Nachricht zum Thema Tarifeinheit.
Die SPD setzt sich von jeher für starke Gewerkschaften und Interessenvertretungen in den Betrieben ein. Alle Beschäftigten haben ein berechtigtes Interesse, dass ihre Anliegen und ihre Rechte von einer starken Vertretung wahrgenommen werden und dass diese im Unternehmen mit einer starken Stimme spricht.
Wir haben in Deutschland mit der Tarifeinheit, die bis 2010 galt, gute Erfahrungen gemacht. Eine Zersplitterung des bewährten Tarifvertragssystems und die Spaltung von Belegschaften wurden verhindert. In Auseinandersetzungen um Flächentarifverträge konnten zudem mitgliedsstarke Belegschaften gute Tarifstandards auch für Mitglieder in Betrieben mit geringerem Organisationsgrad durchsetzen. Gleichzeitig gab es auch vor 2010 viele kleinere Gewerkschaften. Deren Existenz wird auch mit dem Tarifeinheitsgesetz natürlich nicht in Frage gestellt.
Das Bundesarbeitsgericht hat 2010 den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben. Seitdem wird diskutiert, wie eine Zersplitterung der Belegschaften durch eine gesetzliche Regelung verhindert werden kann. Im Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode wurde, auch auf Anregung der DGB-Gewerkschaften, vereinbart: „Um den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken, wollen wir den Grundsatz der Tarifeinheit nach dem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip unter Einbindung der Spitzenorganisationen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber gesetzlich festschreiben. Durch flankierende Verfahrensregelungen wird verfassungsrechtlich gebotenen Belangen Rechnung getragen.“
Mit dem Tarifeinheitsgesetz, das derzeit im Bundestag beraten wird, soll der Grundsatz der Tarifeinheit geregelt und dadurch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gesichert werden.
Das Gesetz hat einen sehr eng begrenzten Wirkungskreis. Bevor es zur Anwendung kommt, stehen allen Beteiligten zahlreiche sinnvolle Konfliktlösungsmechanismen zur Verfügung. Das Gesetz kommt nur dann zur Anwendung, wenn zwei Gewerkschaften in einem Betrieb für dieselbe Arbeitnehmergruppe konkurrierende Tarifverträge verhandeln wollen. Nur im Konfliktfall müssen sich die konkurrierenden Gewerkschaften zum Wohle der gesamten Belegschaft einigen. Wenn dies nicht gelingt, soll der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft angewendet werden, die im Betrieb über die meisten Mitglieder verfügt. Wir stellen damit sicher, dass der Tarifvertrag mit der größten Akzeptanz gilt.
Es ist weiterhin möglich, dass mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb Tarifverträge aushandeln, wenn sie sich darauf einigen, wer für welche Arbeitnehmergruppen verhandelt. Des Weiteren sind Sondervereinbarungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen möglich, ebenso wie die Übernahme eines ausgehandelten Tarifvertrages durch die kleinere Gewerkschaft.
Wichtig ist: Das Streikrecht bleibt unangetastet. Der Gesetzentwurf sieht keine Regelung des Arbeitskampfrechts vor. Es gilt wie schon bislang: Ein Arbeitskampf muss verhältnismäßig bleiben. Künftig wird im Einzelfall im Sinne des Prinzips der Tarifeinheit zu entscheiden sein, ob der von einer Minderheitsgewerkschaft geführte Arbeitskampf verhältnismäßig ist.
Für die Feststellung im Konfliktfall, welche Gewerkschaft die Größere ist, ist ein notarielles Verfahren vorgesehen, bei dem ein zur Verschwiegenheit verpflichteter Notar die Mitgliederlisten der konkurrierenden Gewerkschaften prüft.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales wird am 4. Mai eine Anhörung zu dem Gesetz durchführen. Ich werde mich intensiv mit den verschiedenen Argumenten zu dem Gesetz auseinandersetzen und anhand dieser entscheiden, wie ich abstimmen werde. Die abschließende Lesung im Bundestag ist für die letzte Maiwoche geplant.
Mit freundlichen Grüßen
Daniela Kolbe