Sehr geehrte Frau Rüffer, bei der Diagnose Autismus spricht man aktuell von einem Spektrum. Warum wird jedoch der Autismus ohne geistige Behinderung zu wenig beachtet?
Um Leistungen zB über die Eingliederungshilfe zu bekommen, braucht es oft den Nachweis eines hohen Beschwerdegrads.
,Asperger’ als Diagnose erfährt eine Diskriminierung und Ungleichbehandlung innerhalb dieses Bewertungsprocedere.
Oft wird mit einer schweren psychischen Erkrankung ,nachgebessert‘ um überhaupt eine Leistung zu bekommen ( Sozialhilfe, sozialpsychiatrische Versorgung, Gesundheitsleistungen oder Therapien).
Andererseits wird die Neurodiversität hochgehalten. Das hat für die Communitys eine große Bedeutung für das Selbstverständnis.
Es entsteht jedoch gerne bei den Leistungsträgern der Eindruck: ,da braucht‘s nicht viel‘, oder es heißt ,für den Asperger gibt‘s nichts (an Leistungen).
Die Elternverbände sind da am lautesten wo es um 24/7 Versorgung geht.
Eine erhöhte Suizidrate bei Autismus beschränkt sich jedoch nicht auf die ,leichten Fälle’, im Gegenteil.
Die Personengruppe, die als ,leicht’ eingestuft wird, findet schon mal keine medical pathways vor.
Vielen Dank für Ihre Nachricht und die Schilderung der Herausforderungen, mit denen viele Menschen im Autismus-Spektrum, insbesondere ohne sog. geistige Behinderung, konfrontiert sind.
Auch ich bekomme immer wieder davon zu hören, dass Autist*innen auf große Probleme bei der Berücksichtigung ihrer Bedarfe stoßen.
Das Konzept der Neurodiversität ist sehr wichtig, weil es von einer Pathologisierung und Stigmatisierung der Betroffenen wegführt. Wie Sie selbst bemerken, kann dies aber mit dem Problem verbunden sein, dass der Unterstützungsbedarf dieser Personen seitens der Leistungsträger der Eingliederungshilfe nicht anerkannt wird oder oftmals nur wenn weitere Diagnosen herangezogen werden – was natürlich nicht sein darf.
Das Problem liegt nicht nur in der Praxis der Verwaltung, sondern geht auf die Eingliederungshilfe-Verordnung zurück: Dort wird der Bedarf aus der Einschränkung im Sinne einer „wesentlichen Behinderung“ der Betroffenen abgeleitet und nicht, so wie es das im BTHG implementiere Behinderungsmodell nach der ICF-Klassifikation vorgibt, an einem Wechselspiel zwischen den Eigenschaften der Person und ihrer Umwelt. Dies führt mitunter dazu, dass sehr diskriminierende Sprache wie „geistig wesentlich behindert“ in der Verordnung verwendet wird und Bedarfe aus dem Blick geraten, die sich nicht über solche an der Person festgemachten Diagnosen herleiten.
Eigentlich sollte mit dem BTHG eine neue Verordnung und Definition für die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs auf Eingliederungshilfe erarbeitet werden sollen. Ziel war es, den Personenkreis der Leistungsberechtigten in etwa beizubehalten und gleichzeitig eine neue, auch weniger defizitorientierte Definition zu finden. Damit ist man allerdings gescheitert. Deshalb gilt die alte Verordnung weiter, bis eine neue Verordnung in Kraft tritt.
In jedem Fall muss klar sein, dass die Bedarfe die sich aus einem Autismus ergeben, alleinig ausreichend sind, um Leistungen der Eingliederungshilfe zu beanspruchen. Ich werde mich hierfür einsetzen!
Herzliche Grüße
Corinna Rüffer