Frage an Cem Özdemir von Christine W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Özdemir,
Sie haben sich in der „Aktuellen Stunde“ am 25.06. kritisch zur Wahl des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan durch in Deutschland lebende Türken geäußert.
Als Wahlhelferin bei der letzten Bundestagswahl war ich u.a. damit konfrontiert, dass sich ein Wähler dahingehend äußerte, dass es ja letztendlich egal sei was er wähle, da „wir ohnehin schon in einer Diktatur leben“. Wenn schon deutsche Wähler die deutsche Demokratie so wahrnehmen weshalb wundern Sie sich dann über das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Türken? Was wollen Sie tun um diesen Trend umzukehren?
Die Grünen haben am 07.11.2017 vor dem Bundesverfassungsgericht ein Urteil erstritten aus dem hervorgeht, dass die Kanzlerin verfassungswidrig gehandelt hat. Zudem wurde vor der letzten Bundestagswahl bekannt, dass das Kanzleramt für das TV-Kanzlerduell die Themen vorgegeben hat, was im TV-Duell, indem die von Martin Schulz zusätzlich eingebrachten Themen ignoriert wurden, auch klar zu spüren war. § 11 Abs.2 Rundfunkstaatsvertrag verbietet in Deutschland ein Einwirken der Politik auf die Medien. Wie die Proteste in Israel nach ähnlichem Vorgehen von Herrn Netanjahu zeigen (http://www.fnp.de/nachrichten/politik/Tausende-demonstrieren-gegen-Netanjahu-und-Korruption;art46560,2866953), wird diese Norm allgemein als enorm wichtig (auch bei der Bekämpfung von Antisemitismus) angesehen. Trotzdem woll(t)en die Grünen mit der Union unter Kanzlerin Merkel, die gegen eine so elementare Norm verstößt, koalieren. Warum regen Sie sich dann darüber auf, dass die in Deutschland lebenden Türken dieses aufnehmen, damit ein Einwirken der Politik auf die Medien als selbstverständlich ansehen und Erdogan wählen? Wie erklären Sie sich dass im freien Presseland Deutschland als internationales Vorbild kaum über die Proteste in Israel und gar nicht über das Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 07.11.2017 berichtet worden ist?
Sehr geehrte Frau W.,
Zunächst einmal ein Dankeschön dafür, dass Sie als Wahlhelferin bei der letzten Bundestagswahl unsere Demokratie aktiv unterstützt haben.
Wir leben glücklicherweise in einem demokratischen Rechtsstaat, in dem Journalistinnen und Journalisten in ihrer Berichterstattung völlig frei sind. Die von Ihnen angeführten Beispiele gegen die freie Berichterstattung kann ich in keinster Weise nachvollziehen. Auch ich fand die Themensetzung des letzten Kanzlerduells einseitig. Aber die Mär, das Kanzleramt würde den Medien die Themen vorgeben, ist ein dumpfer Versuch von AfD und Rechtsextremen, das Vertrauen in unser demokratisches System zu untergraben. Und zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 07. November 2017 kann ich Ihnen beispielsweise folgenden Artikel empfehlen: https://www.tagesspiegel.de/politik/bundesverfassungsgericht-was-das-urteil-zum-auskunftsrecht-des-bundestags-bedeutet/20551110.html
Doch die Kontrolle der Legislative und Exekutive funktioniert längst nicht in allen Staaten, selbst wenn diese sich als Demokratie bezeichnen. In der Türkei kann nach Jahren der Einmischung und Unterdrückung durch Erdogan von einer unabhängigen, kritischen Berichterstattung und von Rechtsstaatlichkeit leider keine Rede sein. Daher kann ich nicht nachvollziehen, wie Menschen bei uns in Deutschland alle Freiheitsrechte genießen können und gleichzeitig in der Türkei den Despoten Erdogan wählen und damit genau diese Freiheitsrechte für alle in der Türkei lebenden Menschen weiter beschneiden. Das kritisiere ich aufs Schärfste.
Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir