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Cem Özdemir
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Marvin M. •

Frage an Cem Özdemir von Marvin M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Ozdemir,

Ich habe Ihr diesjähriges Sommer-Interview im ARD gesehen, in dem Sie Liberale, Sozialdemokraten, Linke, aber auch Konservative für die Grünen begeistern wollten.

Wo hat eine Partei, die Linke und Konservative repräsentieren will noch ein Profil?

Sehen Sie die Grünen noch als linke (mitte-links) Partei bzw. Wollen Sie, dass sie so bleibt?

Wie sehen Sie die (westdeutschen, inzwischen Ausgetretenen) "Altgrünen" wie beispielsweise Jutta Ditfurth?

Liebe Grüße,
Marvin

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Müller,

Bündnis 90/Die Grünen sind eine Partei der linken Mitte. Ich sehe uns jedenfalls nicht positioniert zwischen SPD und Linkspartei. Wir haben traditionell mehrere Wurzeln - linke, wertkonservative und auch liberale. Darin sehe ich weder einen Widerspruch noch Beliebigkeit - ganz im Gegenteil. Entscheidend ist, welche inhaltlichen und programmatischen Konsequenzen wir daraus ziehen. Wir sind nur dann wirklich erfolgreich, wenn wir linksliberale, ökologische und wertkonservative Vorstellungen glaubwürdig zusammenbringen. Das ist nicht immer einfach, das gebe ich zu. Aber wir Grüne sind auch nicht bekannt dafür, dass wir es uns einfach machen. Die politischen Herausforderungen, die sich stellen, sind schließlich auch nicht einfach. Jedenfalls dann nicht, wenn man sich ihnen ohne ideologische Vorbehalte stellt.

Wir unterscheiden uns nicht nur bei der Ökologie von den anderen Parteien. Wir sind diejenigen, die Ökologie und Ökonomie konsequent und ambitioniert zusammenbringen wollen. Es ist gut, wenn der Mittelstand mit Klimaschutz Geld verdienen kann und Arbeitsplätze entstehen. Unsere Wirtschaft braucht die entsprechenden Anreize, damit sich Investionen in klimaschonende Technologien lohnen. Ich sehe nicht, wie es ohne diese Anreize funktionieren sollte. Klimaschutz mit moralischen Appellen, das allein wird nicht funktionieren.

Auch bei einem Thema wie Datenschutz und Bürgerrechte haben wir als linksliberale Partei ein klares Profil. Liberalität bedeutet für uns außerdem, dass wir uns dem Spannungsfeld von "Freiheit von" und "Freiheit zu" stellen (und im Gegensatz etwa zur FDP auch die Voraussetzungen der Partei mitdenken). Ich weiß allein schon anhand meiner eigenen Biographie, dass "Freiheit" bloß ein schönes Wort ist, wenn man als Kind oder Jugendlicher nicht auch unterstützt wird, um vorhandene Chancen in der Schule auch zu nutzen. Es geht neben der Unterstützung durch die Gesellschaft und durch das eigene Umfeld auch um eigene Anstrengung. Ich habe motivierenden Lehrern und Eltern von Klassenkameraden viel zu verdanken, aber ich musste als Schüler auch erst begreifen, dass mir nichts geschenkt wird und ich mich auf den Hosenboden setzen musste.

Wir streiten dafür, unsere Natur und Umwelt zu schützen. Darin kann man durchaus einen wertkonservativen Ansatz erkennen. Wer "wertkonservativ" automatisch mit "spießig" oder "rückwärtsgewandt" übersetzt, kann mit dem Begriff natürlich wenig anfangen oder muss ihn aus linksliberaler Sicht sogar ablehnen. Diese Sicht teile ich aber nicht. Es gibt sehr wohl Dinge, die es wert sind, dass sie bewahrt werden - und manchmal muss man gerade deshalb (!) zu umfassenden Veränderungen bereit sein, um dieses Wertvolle zu bewahren. Es wäre jedenfalls ein großes Missverständnis, unser Verständnis von "wertkonservativ" mit "strukturkonservativ" oder "technikfeindlich" zu übersetzen.

Es gibt viele Themen der Grünen, die in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Ich sehe auch deshalb die Herausforderung, dass wir uns als Partei für die Mitte öffnen und die Bevölkerung noch stärker für grüne Ideen, Themen und Konzepte begeistern. Wer mit 8% zufrieden ist, sieht das vielleicht anders. Es geht nicht darum, seine Inhalte zu schleifen, um sie dadurch erst mehrheitsfähig zu machen. Es geht vielmehr darum, mit einer selbstbewussten und offenen Haltung auf Menschen zuzugehen, die aus verschiedenen Gründen skeptisch sind gegenüber Grünen, zugleich aber politisch affin sind für linksliberale, ökologische und/oder wertkonservativen Vorstellungen. Wenn sich jemand als wertkonservativ betrachtet und Klimaschutz als wichtig bewertet, zugleich aber anderen grünen Positionen skeptisch gegenüber steht - soll ich den oder die als WählerIn einfach aufgeben? Oder soll ich nicht doch versuchen, sie oder ihn davon zu überzeugen, dass ihre Interessen bei den Grünen sehr wohl gut aufgehoben sind? Ich finde unbedingt letzteres. Das ist geradezu meine Pflicht.

Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir

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