Frage an Cem Özdemir von Gero K. bezüglich Familie
Sehr geehrter Herr Özdemir,
alle reden immer von der Abschaffung der Wehrpflicht. Dazu habe ich aus zwei Gründen Bedenken.
Zum Einen frage ich mich, ob das nicht dazu führt, dass die Streitkräfte wie in den USA hauptsächlich aus den unteren Gesellschaftsschichten besteht. Es besteht doch die Gefahr, dass wir chancenschwache Menschen in gewisser Hinsicht dazu drängen, ihr Leben bei der Bundeswehr aufs Spiel zu setzen. Denn bei der Wahl zwischen Handwerkerlehre und Karriere bei der Armee kann die Bundeswehr sicherlich bei Gehalt, Arbeitsplatzsicherheit und Ruhestandsalter punkten. Sicher werden sich viele Menschen von diesen in Friedenszeiten glänzenden, scheinbaren Vorteilen blenden lassen. In meinen Augen ist das sozial ungerecht.
Der zweite wichtige Grund, an den scheinbar keiner denkt, ist der Zivildienst. Aus eigener Erfahrung und Gesprächen mit anderen ehemaligen Zivildienstleistenden weiß ich, dass viele gemeinnützige Organisationen im Pflege- und Gesundheitsbereich auf Zivildienstleistende angewiesen sind. Außerdem halte ich den Gedanken, neun Monate etwas für die Schwachen der Gesellschaft zu tun für wertvoll.
Die Alternative Freiwilliges Soziales Jahr ist meiner Meinung nach keine. Bei dem heutigen Karrieredruck werden sich nicht deutlich mehr junge Menschen als momentan dazu entschließen, soviel Zeit zu opfern.
Eine Weiterführung der Wehrpflicht mit stärkerer Betonung des Zivildiensts halte ich deshalb für sinnvoll.
Meine konkreten Fragen lauten:
a) Befürchten Sie keine "Unterschichtsarme"?
b) Was wird aus dem Zivildienst?
Mit freundlichen Grüßen, Gero Knittel
Sehr geehrter Herr Knittel,
vielen Dank für Ihre bedenkenswerten Anmerkungen. Wir haben uns diese Fragen auch gestellt. In der Abwägung mit anderen Vor - und Nachteilen kamen wir zum Ergebnis, dass die Beibehaltung der Wehrpflicht nicht die Lösung ist.
Zu Ihrer Frage, ob ich nicht eine Bundeswehr als "Unterschichtenarmee" befürchte:
Wehrpflichtige sind nur wenige Monate in der Bundeswehr und viele finden diese Zeit eher ernüchternd, wenn nicht sogar abschreckend. Im Ausland kommen keine Wehrpflichtige, sondern nur Freiwillige und Berufssoldaten zum Einsatz.
Wer sich für einen längeren Dienst in den Streitkräften entscheidet, wird dies von den Risiken und den Karriereaussichten abhängig machen. Die Frage, welche Schichten eine Armee anzieht, hat daher vergleichsweise wenig mit der Wehrform, aber viel mit der Arbeitsmarktsituation und Binnenkultur der Streitkräfte zu tun. Entscheidend ist, dass die Soldatinnen und Soldaten in der Bundeswehr eine gute Ausbildung und sinnstiftende Verwendung erfahren. Vor allem eine Armee, die in militärische Abenteuer geschickt wird oder ihre Angehörigen nicht angemessen bezahlt oder behandelt, ist auf die Wehrpflicht zur Nachwuchsgewinnung angewiesen.
Es wird behauptet, die Wehrpflichtarmee sei die intelligentere Armee und eine Spiegelbild der Gesellschaft. Ich bezweifle das. Abgesehen davon, dass Frauen nicht von der Wehrpflicht betroffen sind, waren es die besser gebildeten jungen Männer, die vom Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung erfolgreich Gebrauch machten. Seit mehr als 20 Jahren ist die Kriegsdienstverweigerung zu einem Massenphänomen geworden. Wer nicht bereit ist, Wehrdienst zu leisten, der muss nicht mehr.
Obwohl der Wehrdienst schon auf neun Monate reduziert wurde, kann die Bundeswehr nur noch weniger als 15 Prozent eines Geburtsjahrgangs einen Wehrdienstplatz anbieten, das heißt: es muss kräftig ausgesiebt werden. Durch die strengeren Tauglichkeitskriterien werden viele kluge Köpfe wehrdienstuntauglich gemustert. Darunter sind auch welche, die gerne Wehrdienst leisten würden.
Fazit: Mit der Wehrpflicht kriegt man nicht die besten und klügsten Köpfe in die Bundeswehr. Man schöpft das Potential nicht aus. Wir glauben, es wäre besser, wenn man jungen Frauen und Männern die Möglichkeit gäbe, die Bundeswehr im Rahmen eines freiwilligen Kurzdienstes kennenzulernen. Entscheidend für die Nachwuchsgewinnung ist es, dass die Bundeswehr ein noch besserer Arbeitgeber wird und die Politik die Bundeswehr nur mit verantwortbaren und lösbaren Aufgaben betraut.
Was wird aus dem Zivildienst?
Der Zivildienst ist ein Ersatzdienst für nicht geleisteten Wehrdienst. Er kann die Wehrpflicht nicht begründen. Weil es mehr Zivildienst- als Wehrdienstplätze gibt, haben wir die absurde Situation, dass heute der Zivildienst die Regel und der Wehrdienst die Ausnahme ist.
Die Träger des Zivildienstes wissen, dass sie nicht damit rechnen können, dass Zivildienstleistende immer dann zur Verfügung stehen, wenn man sie gerne hätte. Wenn niemand verweigert oder sich kein Zivildienstleistender findet, müssen die Einrichtungen ihre Arbeit auch ohne Zivis erledigen können. Außerdem müssen Zivildienstleistende arbeitsmarktneutral und gemeinwohlorientiert eingesetzt werden.
Viele Krankenhäuser und soziale Betreuungseinrichtungen werden heute von gewinnorientierten Dienstleistungsunternehmen und nicht mehr von Wohlfahrtsverbänden betrieben. Mit der Verkürzung der Zivildienstdauer, der Ausweitung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, Verbesserungen im Rahmen des Freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres usw. hat der Einsatz von Zivildienstleistenden für viele der anerkannten Trägerorganisationen an Bedeutung verloren. Sie sind darauf vorbereitet, auch ohne Zivildienstleistende auszukommen. Dazu hat nicht zuletzt auch der 2004 vorgelegte Abschlußbericht der Kommission „Impulse für die Zivilgesellschaft“
http://www.bmfsfj.de/Politikbereiche/zivildienst,did=14904.html beigetragen, in dem es um die Zukunft des Zivildienstes und der Freiwilligendienste geht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass ein Abschied vom Zivildienst machbar ist und nicht einhergehen muss mit einem Verlust an Betreuungsqualität.
Waren im Jahr 1998 im Durchschnitt 138.000 Zivildienstleistende im Einsatz, waren es 2008 etwa 63.000. In den Sommermonaten sinkt der Anteil der besetzten Zivildienststellen auf unter 40.000. Hören wir einen Schrei der Empörung oder ist unser Sozialsystem deshalb zusammengebrochen? Nein. Offensichtlich geht es auch ohne Zivis.
Aus Sicht der Grünen sollen die Aufgaben der Zivildienstleistenden u.a. durch die Schaffung regulärer, sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze abgedeckt werden. In vielen Bereichen, z.B. bei der Betreuung von Schwerstbehinderten, ist es wichtig, dass diese anspruchsvollen Aufgaben nicht von alle paar Monate wechselnden angelernten jungen Männern, sondern von Fachkräften ausgeübt werden.
Der Zivildienst ist auch ein wichtiger Lerndienst. Viele junge Menschen sind nach Abschluss der Schulausbildung daran interessiert, neue Lebenswirklichkeiten kennen zu lernen und sich zu engagieren. Diese Lern- und Orientierungsfunktion möchten wir gerne erhalten und ausbauen. Die Zahl der Jugendfreiwilligendienstplätze im sozialen, ökologischen, kulturellen und internationalen Bereich wollen wir mehr als verdoppeln. Damit passen wir das Angebot der enormen Nachfrage von Jugendlichen an. Notwendig ist die konsequente Ausrichtung der Dienste an Orientierung, Bildung und Qualifizierung. Die verschiedenen Programmzweige benötigen eine kohärente Gesamtkonzeption. Sie müssen allen Jugendlichen gleichermaßen offen stehen. Daher ist ein stärkeres Augenmerk auf bislang unterrepräsentierte und benachteiligte Jugendliche zu richten. Dies wird zu massiven Umschichtungen aus den Haushalten für Verteidigung und Zivildienst zugunsten von Freiwilligendiensten und sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung führen.
Mit freundlichen Grüßen
Cem Özdemir