Frage an Canan Bayram von Monika B. bezüglich Bundestag
Hallo Frau Bayram,
ich möchte von Ihnen wissen, warum Sie als einzige Ihrer Fraktion gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes gestimmt haben.
Danke.
Sehr geehrte Frau Benzin,
haben Sie vielen Dank für Ihre Frage.
Die epidemische Lage stellt uns vor Herausforderungen. Aufgrund der sich aggressiv ausbreitenden Mutanten und steigender Infektionszahlen, Longcovid sowie weitere Folgen ist die Gesundheit der Menschen gefährdet.
Die sogenannte „Bundesnotbremse“ habe ich abgelehnt, weil ich sie aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen für problematisch halte. Sie ist aus meiner Sicht nicht in der Lage, die bestehende epidemische Lage ausreichend einzudämmen, weil die drohende Überlastung des Gesundheitssystems dadurch nicht abgewendet werden kann; zudem halte ich die Maßnahmen für nicht verhältnismäßig, da sie ausschließlich im privaten und kaum im beruflichen Bereich ansetzen.
Der gewählte Inzidenzwert von 100, an den die Maßnahmen geknüpft werden, ist möglicherweise zu hoch: Bei einem Inzidenzwert über 35 war die Kontaktnachverfolgung bereits bei der ursprünglichen Virusvariante nicht mehr möglich. Die neue Mutante B 1.1.7. ist noch infektiöser. Zudem führt diese Mutante auch bei jüngeren Menschen häufiger zu schweren Verläufen, sodass die erfolgte Impfung der älteren Bevölkerung sich nicht positiv auf die Auslastung der Intensivbetten in Krankenhäusern auswirkt.
Auch die weiteren Inzidenzwerte, an die andere Maßnahmen gekoppelt werden, sind für mich nicht nachvollziehbar. Als Beispiel sei der Inzidenzwert von 165 genannt, ab dem der Präsenzunterricht an Schulen ausgesetzt werden soll. Diesen halte ich für viel zu hoch. Gerade in den Schulen, wo nachweislich viele Infektionen stattfinden, die dann über die Schüler*innen an ihre Familienmitglieder weitergetragen werden, gefährdet ein derart hoher Schwellenwert grob fahrlässig die Gesundheit von Lehrer*innen, Schüler*innen und ganzer dazugehöriger Familien.
Obwohl die Ansteckungsgefahr draußen nachweislich erheblich geringer ist, als in Innenräumen, sind Freizeitaktivitäten im Freien bei der Bundesnotbremse nicht vorgesehen.
Schließlich halte ich die nächtlichen Ausgangssperren für verfassungsrechtlich bedenklich.
Ausgangssperren greifen unmittelbar in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Allgemeine Handlungsfreiheit und die Ehe- und Familienfreiheit ein.
Eine Grundrechtseinschränkung muss, um verhältnismäßig zu sein, zunächst geeignet sein, den verfolgten Zweck – hier eine Senkung der Inzidenzen – zu erreichen. Bereits an diesem Punkt gibt es Bedenken. In einigen Bundesländern sowie Nachbarländern gibt es Hinweise darauf, dass die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen nicht in relevantem Maß zur Pandemieeindämmung beitragen. Da Ansteckungen sich hauptsächlich in Innenräumen ereignen, ist nicht vermittelbar, warum ausgerechnet das nächtliche Herumlaufen an frischer Luft verboten sein sollte. Dies ist insbesondere fraglich, da zur Nachtzeit weniger Menschen auf den Straßen sind, als tagsüber.
Die Argumentation, dass damit vermieden werden solle, dass Menschen sich in Wohnungen anderer Menschen begeben – sie also „auf dem Weg“ abgefangen werden sollten – ist durch den Änderungsantrag der Koalition hinfällig: Wie eine Ausgangsbeschränkung zwischen 0 Uhr und 5 Uhr morgens dazu beitragen soll, dass sich Menschen nicht vor 0 Uhr in Wohnung anderer Menschen begeben und sich dort entweder nur bis 0 Uhr aufhalten und dann den Heimweg antreten oder dies sogar erst am nächsten Morgen nach 5 Uhr tun, ist zumindest fraglich. Der Aufenthalt in der fremden Wohnung zu dieser Zeit ist ohnehin schon verboten.
Die Ausgangssperre darf nur als Ultima Ratio eingesetzt werden, also als letztes Mittel, wenn kein anderes Mittel wirkt. Die Maßnahmen in übrigen Bereichen des Lebens sind nicht ausgereizt, schon deswegen sollte ein voreiliger Entschluss für eine Ausgangssperre überdacht werden.
Aus diesen Gründen habe ich gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte Verfassungsbeschwerde gegen die nächtliche Ausgangssperre eingelegt.
Wenn die Koalition wirklich den Anspruch hätte, aus der Spirale der steigenden Neuinfektionen auszusteigen, so müssten die Inzidenzzahlen massiv gesenkt werden, weit unter 100. Wäre es der Koalition daher ernst mit der Pandemieeindämmung, so würde sie – angelehnt an die im No-Covid-Strategiepapier skizzierte Vorgehensweise, die auch bereits in anderen Ländern erfolgreich zum Einsatz gekommen ist – die Infektionszahlen durch einen kurzen, dafür sehr harten Lockdown in allen Lebensbereichen absenken, um anschließend durch Mobilitätskontrollen, verpflichtende Tests und Quarantäne sowie lokal begrenztem Eingreifen einen erneuten unkontrollierten Ausbruch verhindern. Nur so können wir es langfristig auch z.B. der Kultur, dem Einzelhandel, der Gastronomie, den Kindertagesstätten und den Schulen ermöglichen, ihren normalen Betrieb gefahrenlos wieder aufzunehmen und damit den Menschen eine Aussicht auf eine Rückkehr zum normalen Leben eröffnen.
Nur als Teil eines solchen schlüssigen Gesamtkonzepts, das auch den Arbeitsbereich einbezieht und auf eine rasche Aufhebung der Maßnahmen gerichtet wäre, wäre auch eine Ausgangssperre akzeptabel.
In einem Punkt geht es voran: Durch das angezogene Impftempo werden zunehmend Menschen immunisiert und dadurch die Inzidenzzahlen sinken. Dass Immunisierte, die nicht mehr zum Infektionsgeschehen beitragen und dadurch auch zum Schutz der ganzen Gesellschaft beitragen, nicht weiter denselben freiheitseinschränkenden Maßnahmen unterworfen werden dürfen, liegt auf der Hand.
Bereits im Januar 2021 hatte ich beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages ein Gutachten zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Ungleichbehandlungen von geimpften gegenüber ungeimpften Personen in Auftrag gegeben. Es steht für mich außer Frage, dass Infektionsschutz eine wichtige staatliche Aufgabe ist – dabei dürfen wir jedoch nicht die Bürger*innenrechte aus den Augen verlieren. Diese zu wahren sehe ich für mich als Parlamentarierin als höchste Pflicht.
Die Ausnahmeverordnung für Geimpfte und Genesene, die diese Woche verabschiedet wird, begrüße ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich; auch, dass weitere Erleichterungen und Ausnahmen von den Landesregierungen erlassen werden können.
Herzliche Grüße
Canan Bayram
Meine Persönliche Erklärung mit allen Gründen für die Ablehnung finden Sie hier: https://bayram-gruene.de/persoenliche-erklaerung-von-canan-bayram-mdb-zum-vierten-gesetz-zum-schutz-der-bevoelkerung-bei-einer-epidemischen-lage-von-nationaler-tragweite/
Die Verfassungsbeschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte, der ich mich angeschlossen habe, finden Sie hier: https://freiheitsrechte.org/ausgangssperren/
Das von mir in Auftrag gegebene Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes finden Sie hier: https://www.bundestag.de/resource/blob/817546/f6116e700eff33433cb8123198852d11/WD-3-001-21-pdf-data.pdf