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Canan Bayram
Bündnis 90/Die Grünen
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Frage von Sabine S. •

Frage an Canan Bayram von Sabine S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Bayram,

ich stelle meine Frage an alle Kandidaten meines Wahlkreises.

Mein Mann ist in Chile geboren. Er kam 1974 als 7jähriger nach Berlin und fühlt sich durch und durch als Berliner. Leider ist es ihm bisher nicht gestattet an der Abgeordnetenhauswahl oder an Bürgerentscheiden in Berlin teilzunehmen. Warum gibt es kein Wahlrecht für ihn? Gedenken Sie etwas dafür zu tun?

Mit freundlichem Gruß
Sabine Schneider

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Schneider,

vielen Dank für Ihre Frage, die einen Missstand unserer Demokratie aufzeigt, den wir Bündnis 90 / Die Grünen noch vor einigen Monaten im Berliner Parlament gegen den Widerstand aller Fraktionen behandelt haben. Unser Antrag (Drucksache 16/3860) mit dem wir die Landesverfassung von Berlin so ändern wollen, dass auch nicht EU-Ausländer_innen ihre kommunale Vertretung, d.h. die Bezirksverordnetenversammlungen, wählen können, wurde von SPD, Linke, FDP und CDU abgelehnt. Hierzu gibt es eine namentliche Abstimmung unter folgendem Link http://www.parlament-berlin.de/ados/16/IIIPlen/protokoll/plen16-085-bp%20Anlage%203.pdf. Unter folgendem Link http://www.rbb-online.de/imparlament/index.media.!etc!medialib!rbb!rbb!imparlament!berlin!2011!23_juni_2011!top_5___antrag_der.html[http://www.rbb-online.de/imparlament/index.media.!etc!medialib!rbb!rbb!imparlament!berlin!2011!23_juni_2011!top_5___antrag_der.html] können Sie die dazu gehörige Parlamentsdebatte als Video anschauen.
 
Parlamentarisch ungewöhnlich war, dass der Antrag in der Rechtsausschusssitzung gegen den Willen der antragstellenden Fraktion und ohne Anhörung abgelehnt wurde. In der Innenausschusssitzung waren wir die einzige Fraktion, die einen Anzuhörenden benannt hat. Auch das zeugt davon, dass die anderen Fraktionen gar keine ernsthafte Diskussion zu dem Thema führen wollten. Das ist umso erstaunlicher, als SPD und Linke solche Forderungen in ihren Wahlprogrammen aufführen. Bitte machen Sie sich ein eigenes Bild: Der Sachverständige Felix Hanschmann hat in einem Gutachten und mündlich in der Innenausschusssitzung dargestellt, warum eine Änderung der Berliner Landesverfassung nicht nur möglich, sondern auch rechtlich geboten ist.
 
„Zum einen ist das Wahlrecht heute nicht mehr wie noch 1990 an die Staatsangehörigkeit gebunden. Oder, anders formuliert: Die Staatsangehörigkeit ist nicht länger zwingende Voraussetzung für das Recht, aktiv und passiv an Wahlen teilzunehmen. Das zeigt sehr schön das Unionsbürgerwahlrecht bei Kommunalwahlen. Damit ist der Zusammenhang, den das Bundesverfassungsgericht 1990 zwischen Staatsangehörigkeit und Wahlberechtigung und zwischen Wahlberechtigung und Zugehörigkeit zum deutschen Volk aufgestellt hat, unmissverständlich aufgehoben worden. Das heißt, es gibt seit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger keinen zwingenden Zusammenhang mehr zwischen der Staatsangehörigkeit und der Möglichkeit, an Wahlen teilzunehmen.
Das ist aber nur ein Punkt. Darüber hinaus, das kann man vielleicht in der Fragerunde noch vertiefen, kann man im Völkerrecht und im Europäischen Recht die Entstehung sogenannter transnationaler Angehörigkeiten beobachten. Was heißt das? - Das heißt, dass es einen Rechtsstatus gibt, also einen Status, der mit ganz bestimmten Rechten verbunden ist, wie Arbeitsaufnahme, wie Freizügigkeitsregelung. Dieser Rechtsstatus ist nicht mehr länger an die Staatsangehörigkeit der konkreten Person gebunden, sondern er ist an die Frage gebunden: Wie lange hält sich eine bestimmte Person mit welchem Status innerhalb eines bestimmten Territoriums auf?
Der letzte Punkt, der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts heute als überholt darstellt, ist die Entstehung eines internationalen Menschenrechtsschutzes, der ebenfalls nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpft, sondern an individuelle Rechte des Einzelnen.
Um zusammenzufassen: Die Staatsangehörigkeit ist keine Voraussetzung für das Innehaben von Rechten, auch nicht von Wahlrechten. Die Prämissen, die das Bundesverfassungsgericht 1990 formuliert hat, sind heute nicht mehr gültig. Insofern hat sich die schon damals massiv erhobene Kritik an den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als richtig erwiesen.
Damit bin ich bei meinem zweiten Einwand - oder dem zweiten Einwand, der in der Anhörung erhoben wurde -, die Lösung müsse über das Staatsangehörigkeitsrecht erfolgen. Dazu ist zu sagen, dass beide Wege natürlich alternativ gangbar sind. Man kann sowohl ein großzügiges Staatsangehörigkeitsrecht mit relativ leichten Einbürgerungsvoraussetzungen schaffen, man kann aber gleichzeitig auch, das eine schließt das andere nicht aus, das kommunale Wahlrecht für Drittstaatsangehörige einführen. Schwierig wird es - und das ist seit den Reformen im Staatsangehörigkeitsrecht im Jahr 2000 zu beobachten -, wenn das Staatsangehörigkeitsrecht zunehmend restriktiver ausgestaltet wird, weil dann gerade nicht diese Kluft zwischen Unionsbürgern und Deutschen und Drittstaatsangehörigen andererseits über das Staatsangehörigkeitsrecht geschlossen werden kann. Diese restriktiven Tendenzen im Staatsangehörigkeitsrecht sind vielfach. Da geht es um die Erhöhung der Anforderungen an Sprachkenntnisse, die Einführung von Einbürgerungstests, die Einforderung von Bekenntnissen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, das kontrafaktische Beharren auf dem Verbot der Mehrstaatigkeit, das Festhalten an der Optionspflicht für Ius-soli-Mehrstaater und andere Dinge mehr. All das führt dazu - nicht nur, aber auch. Die Motivationen, warum sich Drittstaatsangehörige nicht einbürgern lassen, sind sehr vielfältig, aber all das führt dazu, dass die Einbürgerungszahlen seit dem Jahr 2000 stark rückläufig sind. Das heißt, offensichtlich ist das Staatsangehörigkeitsrecht kein tauglicher Weg, jedenfalls, wenn es so ausgestaltet bleibt, wie es ist, um die Kluft und dieses Demokratieprinzip anzugehen.
Der letzte Einwand zielte darauf - ich sagte es bereits -, dass die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürgerinnen und Unionsbürger eine Ausnahme sei, die europarechtlich verlangt werde und die deshalb vom Bundesgesetzgeber, vom verfassungsändernden Gesetzgeber, umgesetzt worden sei. Im Umkehrschluss könnte man folgern, dass damit sozusagen Wahlrechte für Drittstaatsangehörige verfassungswidrig oder ausgeschlossen seien. Dieser Einwand ist aber in mehrfacher Hinsicht unzutreffend. Zum einen beseitigt der Einwand nicht, dass die Prämissen des Bundesverfassungsgerichts aus den beiden Entscheidungen von 1990 seit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger überholt sind. Der Zusammenhang zwischen Staatsangehörigkeit und Wahlerfolg ist aufgehoben worden. Staatsangehörige anderer Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind nach Artikel 116 Abs. 1 Grundgesetz evident ebenso nicht Deutsche wie diejenigen Personen, die weder die deutsche noch die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzen.Viel wichtiger für die Frage hier und für diesen Einwand ist aber, dass die Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger in keiner Weise - es gibt keine Stimme in der rechtswissenschaftlichen Literatur, es gibt keine Gerichtsentscheidung -, Vorgaben für die Frage macht, ob man den Kreis der Wahlberechtigten über die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger hinaus noch erweitern kann. Das heißt, man kann aus der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger nicht schließen, dass damit automatisch auch die weitergehende Erweiterung von Wahlberechtigten ausgeschlossen ist. Das wird bereits deutlich, wenn Sie sich die rechtliche Situation in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union angucken. Zahlreiche Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, wie z. B. Dänemark, Schweden, Finnland, Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg, Estland, Irland, das Vereinigte Königreich oder die Niederlande, gewähren Nichtstaatsangehörigen - und damit meine ich auch Nichtunionsbürger -, die in den jeweiligen Ländern leben, das Wahlrecht auf unterschiedlichen politischen Ebenen und natürlich mit unterschiedlichen Voraussetzungen, je nachdem, wie die lange die Aufenthaltsdauer sein muss.
Deshalb - und damit bin ich am Ende - ist eine Rechtsprechungsänderung auch in Bezug auf das kommunale Wahlrecht von Nichtdeutschen möglich...."
Liebe Frau Schneider, die Diskriminierung im Wahlrecht führt - ebenso wie andere diskriminierende Umstände - dazu, dass Migrant_innen in Deutschland ausgegrenzt und ausgeschlossen werden. Dies werden wir als Bündnis 90/Die Grünen nicht hinnehmen. Die zunehmende Zahl rasisstischer Parteien und Diskurse stellt eine Gefahr für unsere Demokratie dar und muss angegangen werden. Ich selbst bin seit 2006 in der Initiative gegen Rechts in Friedrichshain aktiv um gerade auch ein Zeichen zu setzen, dass unsere Gesellschaft sich insgesamt öffnen muss, damit gleichberechtigtes Zusammenleben gelingt. Das Recht an Abstimmungen teilzunehmen richtet sich nach dem Wahlrecht, d.h. an den Wahlen und Abstimmungen auf Landesebene dürften EU-Staatsbürger ebenfalls nicht teilnehmen, was ebenso falsch und änderungsbedürftig ist. Bei Gesprächen auf der Straße und in Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Abstimmung zum Volksentscheid zur Offenlegung der Wasserverträge haben sich viele Menschen beschwert, dass sie von der Mitbestimmung ausgeschlossen werden.
 
Für Ihren Mann ebenso wie für die EU-Staatsbürger, die nicht an der Abgeordnetenhauswahl teilnehmen können, wollen wir Änderungen herbeiführen. Mit ist dieses Thema als Politikerin ebenso wichtig, wie als Juristin. Ich bleibe dran und bitte Sie auch dafür um Ihr Vertrauen durch Ihre Erststimme.
 
Mit herzlichen Grüßen
 
Canan Bayram

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