Frage an Bernhard Daldrup von Christoph S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Kann es sein, dass Fernpendler und Leute, die berufsbedingt öfter umziehen müssen, in der Demokratie schlechter dastehen als diejenigen, die immer an der selben Stelle wohnen und nahe ihrer Wohnung arbeiten?
Sind diese Leute nicht immer im falschen Wahlkreis oder in der falschen Stadt stimmberechtigt? Machen viele Kommunalpolitiker nicht Politik für die Bestandsbewohner und gegen Leute, die dazu ziehen wollen?
Sind aus diesen Gründen die neue Ausweisung von Wohngebieten oder die Planung zusätzlicher Verkehrswege besonders schwierig bzw. langsam oder selten? Betreiben manche Politiker ein inverses Gerrymandering, d.h. wenn sie schon nicht zwecks Auswahl der richtigen Wähler die Grenzen ihres Wahlkreises oder ihrer Stadt ändern können, so sorgen sie doch dafür, dass ihre Fans dort wohnen bleiben und die Fans ihrer Gegner sich dort nicht ansiedeln können?
Kann es sein, dass Fernpendler keine Zeit haben, an wichtigen Sitzungen ihres Ortsvereins ihrer Partei teilzunehmen, sind die deshalb mangels Bekanntheit nur noch sehr theoretisch als Delegierter zum Parteitag wählbar?
Verlieren die ihr aktives Wahlrecht innerhalb ihrer Partei, weil die bei den Abstimmungen im Ortsverein nicht da sein können?
Müssen die sich im für sie falschen Ortsverein organisieren? D.h. z.B. da, wo die ihren Schlafplatz haben und nicht da, wo die arbeiten?
Sehr geehrter Herr S.,
zunächst einmal vielen Dank für Ihre Fragen. Auch wenn sie recht viele sind, werde ich versuchen, Ihnen ausreichend darauf zu antworten. Entschuldigen Sie bitte die erhebliche zeitliche Verzögerung meiner Antwort!
Ich verstehe, dass es für Sie als Pendler schwieriger ist, im Ortsverein präsent zu sein. Ihrer Behauptung, dass damit ein Verlust der Reputation oder vielmehr eine Benachteiligung in der Demokratie einhergeht, kann ich nicht ohne Weiteres zustimmen. Die Teilhabe am demokratischen Tagesgeschehen ist weder an den Arbeitsort, noch an den Heimatort gebunden. In der heutigen digitalen Zeit ist ein politischer Austausch an jedem Ort möglich und nötig.
Gerade jetzt in der Corona-Krise zeigt sich eindrucksvoll, dass digitale Formen politischer Partizipation vielfältig und relativ einfach umzusetzen sind. Von digitalen Ortsvereinssitzungen und Stammtischen wird gerade regen Gebrauch gemacht. Eine der vielen Lehren aus dieser Krise könnte eine größere Akzeptanz digitaler Formen der Partei- und Vereinsarbeit sein. Das würde ich sehr begrüßen.
Weiter führen Sie aus, dass KommunalpolitikerInnen dazu neigen „Politik für die Bestandsbewohner“ zu machen. Ferner sei diese Politik sogar gegen die neu dazu gezogenen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Als jemand, der selbst lange in der Kommunalpolitik tätig war, muss ich das klar zurückweisen. Sollte Ihnen ein konkretes Beispiel hierfür vorliegen, bitte ich Sie, mir dieses genauer zu schildern.
Dass die Auf- bzw. Annahme von Dazugezogenen in einer Dorf- oder Stadtgemeinschaft schwierig sein kann, ist eine andere Sache. Grundsätzlich richten sich die KommunalpolitikerInnen, jedenfalls meiner Partei, nach den Anliegen sowohl alt eingesessener als auch neu zugezogener Bürgerinnen und Bürger. Das Gegenteil würde mich überraschen.
Aus diesem Grund muss ich auch Ihrer These bezüglich neuer Wohngebiete oder Verkehrswege widersprechen. Die Planung solcher Vorhaben ist äußerst komplex, kostspielig und langatmig. Infrastrukturfragen können nicht auf diesen einen Aspekt reduziert werden, weil wichtige Faktoren (verfügbare Mittel, Arbeitskapazitäten, Stimmungsbild der Anwohner und Gesamtbürgerschaft, Umweltaspekte etc.) außen vor blieben. An dieser Stelle weise ich explizit darauf hin, dass viele Gemeinden, die vom demografischen Wandel besonders betroffen sind, gezielt um Neuansiedler werben.
Ich möchte Sie ermutigen: Mit Interesse und Ehrgeiz kann man, egal in welcher Lebenssituation, politisch partizipieren und als Delegierter auf einem Parteitag gewählt werden. Politische Teilhabe ist immer möglich. Heute vielleicht leichter als früher, gerade auch mit Blick auf die digitalen Möglichkeiten.
Es kann daher auch nicht vom „falschen Wahlkreis“ die Rede sein. Ein Mitgestalten im eigenen Wahlkreis ist meiner Meinung nach auch in solchen besonderen Fällen möglich. Sprechen Sie Ihre Parteifreundinnen und -freunde an und Sie werden sicher einen Weg finden, wie auch Sie als Berufspendler aktiv mitwirken können.
Ich hoffe, Ihre Fragen zufriedenstellend beantwortet zu haben, und bitte nochmal, die verspätete Antwort zu entschuldigen.
Mit freundlichen Grüßen aus Berlin
Bernhard Daldrup