Für den Fall das Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Bundesrepublik besucht, sind sie für die durch Setzung des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshof?
Sehr geehrter Herr S.,
Ihre Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es müssen viele Aspekte abgewogen werden.
Lassen Sie mich zunächst sagen: Die Ereignisse in Israel und im Gaza-Streifen seit dem 07. Oktober 2023 haben auf beiden Seiten des Konflikts traumatische Dimensionen und werden eine Zäsur im politischen Nahen Osten darstellen. Auch wir Grüne sitzen hier zweifellos in einem Spannungsverhältnis zwischen historischer Verantwortung Deutschlands und der Verteidigung des Völkerrechts.
Einerseits stehen wir angesichts des menschenverachtenden Angriffs der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober solidarisch und entschlossen an der Seite Israels und seiner Menschen. Das Land hat ein Recht auf Selbstverteidigung im Rahmen der Vorgaben, die das Völkerrecht für solche Ausnahmesituationen vorsieht. Deshalb ist jedoch Kritik an der Kriegsführung auch möglich und nötig, was übrigens auch in Israel selbst vehement debattiert wird. Gleichzeitig ist für uns Deutsche das Existenzrecht Israels als Staat durch nichts zu relativieren.
Zugleich steht die Grüne Bundestagsfraktion fest zu Menschenrechten, zum humanitären Völkerrecht und den darin festgeschriebenen humanitären Prinzipien. Danach sind die Zivilbevölkerung und zivile Infrastruktur, v.a. Krankenhäuser oder Schulen, unter allen Umständen zu schützen. Das gilt auch für die israelische Seite. Viel zu viele unschuldige Menschen sind beim Gegenschlag Israels im Gaza-Streifen gestorben oder schwer verwundet worden. Gleichsam verstoßen der Angriff auf unschuldige Zivilisten in Israel sowie der Missbrauch von Zivilisten als Schutzschilde im Gaza-Streifen durch die Hamas und die Nutzung ziviler oder medizinischer Einrichtungen als militärische Infrastruktur ebenfalls gegen alle Regeln des humanitären Völkerrechts.
Die humanitäre Lage der in Gaza leidenden und festsitzenden Zivilbevölkerung ist durch die Kriegsführung Israels immer katastrophaler geworden. Für uns steht außer Frage, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, damit die Menschen vor Ort schnellstmöglich sicheren Zugang zu dringend notwendiger humanitärer Hilfe – Lebensmittel, Wasser, medizinische Versorgung – erhalten.
Gleichzeitig haben wir seit Beginn des Konflikts humanitäre Waffenruhen gefordert in der Hoffnung, dass sie letztendlich auf einen verhandelten Waffenstillstand und langfristig in eine politische Lösung münden. Wir Grüne sind diejenigen, die im Bundestag am lautesten und hartnäckigsten eine Zwei-Staaten-Lösung als Ergebnis eines internationalen Friedensprozesses fordern. Wir haben diese Sprache auch in den Anträgen zum Nahost-Konflikt im Bundestag eingebracht.
Das heißt natürlich auch, dass wir mit den israelischen Gesprächspartnern, egal auf welcher Ebene, weiterhin in engem Austausch bleiben müssen und wollen, um kurzfristig für eine Verbesserung der humanitären Lage einzutreten und langfristig für eine politische Lösung des Konflikts zu werben. Dieses politische Engagement ist nötig unabhängig von Haftbefehlen des IStGH.
Wenn Sie unsere Pressestatements in den vergangenen Monaten verfolgt haben, werden Sie feststellen, dass wir mit scharfen Worten die Politik der radikal rechtsgerichteten Regierung unter Benjamin Netanjahu kritisiert haben. Sie hat das Land innenpolitisch zerrissen und außenpolitisch vor riesige Herausforderungen gestellt. Neben nationalistischen und religiösen Kräften sind in ihr auch rassistische und rechtsextreme sowie u.a. wegen Korruption und Terrorismus vorbestrafte Politiker vertreten. Nach innen polarisiert diese Regierung die israelische Gesellschaft, da Kräfte in ihr die Arbeit von NGOs vor allem zu Menschenrechten einschränken wollen und sich massiv gegen LGBTQ- und Frauenrechte ausgesprochen haben. Arabische Israelis sehen ihre Staatsbürgerrechte in Gefahr. Mit den getroffenen Personalbesetzungen und Gesetzesvorhaben zur Straflosigkeit von Korruption und des Aussetzens von Urteilen des Obersten Gerichtshofs durch das Parlament wird die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz in Frage gestellt. Auch sollen die Rechte von kritischen Abgeordneten in der Knesset beschnitten werden. All das gefährdet die demokratischen Strukturen des Landes.
Dennoch hat die Bundesregierung mit der Amicus-Curiae-Stellungnahme an den IStGH wie andere Staaten auch Gebrauch davon gemacht, ihre Meinung gegenüber dem Verfahren auszudrücken.
Hier hat Deutschland am 6. August darauf hingewiesen, dass es trotz der oben erwähnten Gefahren für Israels Institutionen durch die aktuelle Regierung unter Benjamin Netanjahu grundsätzlich an die demokratischen und rechtsstaatlichen Verfahren und Institutionen in Israel glaubt. Sie setzt also auf das Komplementaritätsprinzip. Der IStGH ergänzt nationale Strafgerichtsbarkeit und ersetzt sie nicht. Die Aufklärung durch den IStGH braucht Zeit aufgrund der Schwere der Anschuldigungen, aber auch aufgrund des anhaltenden Konflikts. Die israelische Justiz hat in diesem Zusammenhang erklärt, mit dem IStGH und seinem Ankläger kooperieren zu wollen. Dieser Möglichkeit soll eine Chance gegeben werden.
Bei der schwierigen Abwägung zwischen der grundsätzlichen Unterstützung des Staates Israels und der Verpflichtung gegenüber den völkerrechtlichen Institutionen, die Personen einer aktuellen Regierung anklagen, hat die Außenministerin klar betont, dass Deutschland sich an Recht und Gesetz hält, das Völkerrecht achtet und die Unabhängigkeit des IStGH und seiner Ermittlungen. „Die Bundesregierung hält sich an Recht und Gesetz, weil niemand über dem Gesetz steht“, sagte sie am Rande eines Treffens der G7-Außenminister in Italien Ende November 2024. „Es gilt die Unabhängigkeit der Justiz, die in diesem Fall zu dem Schluss gekommen ist, dass es hinreichend Indizien für sie gibt, diesen Schritt jetzt zu unternehmen.“
Dies ist auch die Position der Grünen Bundestagsfraktion. Deutschland darf gerade jetzt nicht zu einer Erosion dieser lang erarbeiteten Prinzipien und multilateralen Institutionen beitragen, erst recht nicht in einer Zeit, wo diese besonders gefährdet sind. Das ist nicht nur eine Frage der nationalen Glaubwürdigkeit, sondern auch der internationalen Gerechtigkeit und am Ende ein Faktor von Verlässlichkeit und langfristiger Stabilität weltweit, auf die wir alle angewiesen sind.
Mit freundlichen Grüßen,
Beate Walter-Rosenheimer