Frage an Antje Tillmann von Robert W. J. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Tillmann,
die Diskussion um eine mögliche Wahlrechtsreform ist ja nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes neu entbrannt.
Meine Frage dazu lautet, wie Sie respektive Ihre Partei zu einer unumschränkten Einführung des allgemeinen Wahlrechts stehen? Damit meine ich ein Wahlrecht, bei dem alle Bürger eine Stimme haben, die zählt und politisch Gehör findet. Schließlich wird bislang eine große Gruppe (ca. 25 %) des Volkes, von dem laut GG die Staatsgewalt ausgeht, nicht berücksichtigt. Kinder und Jugendliche, die ganz besonders von Entscheidungen der Legislative betroffen sind, haben faktisch keine Stimme, müssen jedoch viele Entscheidungen, die heute getroffen werden, in späteren Jahren "ausbaden". Dies ist meines Erachtens undemokratisch. Wenn Säuglinge Großaktionäre, Kinder und Jugendliche geschäfts- und straffähig sind, warum können sie nicht wahlberechtigt sein?
Vielleicht gibt es ja auch schon Initiativen dazu? Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um dies in die Diskussion einzubringen!
Über eine Stellungnahme Ihrerseits würde ich mich sehr freuen. Mit bestem Gruß,
Robert W. Jahn
Sehr geehrter Herr Jahn,
die Idee, dass man die Berücksichtigung der gegenwärtigen und langfristigen Interessen von Kindern und Jugendlichen durch eine Veränderung des Wahlrechts verbessern könnte, ist auf den ersten Blick durchaus sympathisch. Allerdings stehen dieser Idee gravierende verfassungsrechtliche und auch zahlreiche praktische Einwände entgegen.
Einerseits ist es eine zentrale Errungenschaft moderner Demokratien, dass Wählerstimmen nur gezählt aber nicht gewogen werden. Die Entscheidung in Art. 38 unseres Grundgesetzes für ein allgemeines, unmittelbares, freies und gleiches Wahlrecht ist eine Absage an jede Form der wahlrechtstechnischen Privilegierung partikulärer Interessen, die man als besonders wertvoll erachtet. Ein Beispiel hierfür war das bis 1918 geltende Preußische Dreiklassenwahlrecht, das den Einfluss der besitzenden Schichten sichern helfen sollte. Als letzter Versuch in dieser Richtung gilt wohl der gescheiterte Versuch des damaligen Reichsinnenministers von Gaul, der in der Übergangsphase der Weimarer Republik, Zusatzstimmen für Familienväter im deutschen Wahlrecht zu verankern suchte.
Vordergründig erscheint der Vorschlag eines Kinderwahlrechts wenig umwälzend, da das angestrebte Stimmrecht der Kinder von den Eltern lediglich stellvertretend ausgeübt werden soll. Insoweit ist ein Kinderwahlrecht schon fraglich, da das Stimmgewicht nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern liegt. Diese würden nach eigenem "für richtig halten" zusätzliche Stimmrechte ausüben können. Daher ist die Bezeichnung eines "Wahlrechts von Geburt an" in der Sache irreführend, denn auch zukünftig würde niemand vor Erreichen des Wahlalters wählen dürfen.
Auch das Argument, nach Art. 20 GG werde die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen vom Volke ausgeübt nicht nur von den Wahlberechtigten, kann nicht überzeugen. Dass diejenigen Staatsangehörigen, die noch nicht wahlmündig sind, oder jene, die betreut (früher entmündigt) wurden oder denen durch Strafurteil die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind, nicht zum Wahlvolk gehören, beeinträchtigt nicht das Prinzip der allgemeinen Volkswahl. So hat das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung eine Altersgrenze beim Wahlrecht als "zwingend" und "historisch erhärtet" angesehen. Die Wahlberechtigten repräsentieren das Deutsche Volk im gleichen Sinne, wie die tatsächlichen Wähler die Gesamtheit der Wahlberechtigten.
Neben diesen grundsätzlichen Einwänden stellen sich auch ganz praktische Fragen, die die Vorschläge für ein "Wahlrecht von Geburt an" mit Zweifeln belasten. Folgende Punkte sollten bedacht werden:
Bei unterschiedlichen Auffassungen der Erziehungsberechtigten oder im Scheidungsfall muss die Frage des Letztentscheids über die Abgabe der Kinderstimme geklärt werden: Soll am Ende ein Familiengericht entscheiden? Im Falle von Kindern, deren Eltern verstorben oder denen das Erziehungsrecht entzogen wurde, stellt sich die Frage der Legitimität von Mehrfachvertretungen: Sollen Heimleiter dann über die Stimmen der von Ihnen betreuten Kinder verfügen? Unklar ist auch, wer das Wahlrecht ausüben soll, wenn die Minderjährigen Deutsche, die Eltern aber Ausländer sind. Die nicht zu vermeidende und wohl auch beabsichtigte Diskussion zwischen Eltern und Kindern über die Abgabe der Stimme, führt notwendigerweise zu einer Beeinträchtigung des Grundsatzes der geheimen Wahl und würde den Charakter der Wahl von einer höchstpersönlichen zu einer Art Gruppenentscheidung verändern. So sehr auch mich die demografischen Veränderungen in unserem Land und die damit verbundenen Veränderungen in der Wählerschaft beunruhigen, so skeptisch bleibe ich doch dem Vorschlag gegenüber, Eltern minderjähriger Kinder ein überproportionales Gewicht bei Wahlen zu verschaffen. Ich hoffe, Ihnen meine Argumente etwas näher gebracht zu haben und verbleibe
Mit freundlichen Grüßen
Antje Tillmann