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Annette Widmann-Mauz
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Frage von ansgar m. •

Frage an Annette Widmann-Mauz von ansgar m. bezüglich Innere Sicherheit

Hallo Frau Widmann-Mauz,

in Anbetracht der zusehends schlechteren Wirtschaftslage bereitet mir ein Paragraph der Lissabonner Verträge wirklich Kopfschmerzen.

(a) Artikel 2 Absatz 2 EMRK:
“Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um

a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;

b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;

c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen”.

Hier steht ganz klar, der Staat hat das Recht einen Aufstand durch Tötung der aufständischen niederzuschlagen, falls die Sicherheit der öffentlichen Ordnung in Gefahr ist. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als das eine Demonstration schon Anlass geben könnte scharf zu schießen. Bemerken sie den Unterschied zwischen China und der BRD nach den Lissabonner Verträgen? Es gibt keinen mehr. Alles nur eine frage der Definition. nwo lässt grüßen.
Meine Frage:
Wieso wird über eine solch gewaltige Einschränkung des Verbots der Tötung durch den Staat nicht öffentlich diskutiert ?
Sind wir auf dem Weg zur demokratischen Diktatur?

Viele Grüße von einem besorgten Demokraten.

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr Melinger,

vielen Dank für Ihre Anfrage zur Ausgestaltung des Vertrags von Lissabon. Sehr gerne nehme ich dazu Stellung.

Einen weit verbreiteten Kritikpunkt in der öffentlichen Diskussion bildet die Behauptung, dass mit dem Vertrag von Lissabon die Todesstrafe eingeführt bzw. die Tötung zur Niederschlagung eines Aufruhrs oder Aufstands legitimiert werde. Begründet wird dies mit dem vorgesehenen Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese enthalte Bestimmungen, wonach die Todesstrafe und die Tötung im Ausnahmezustand unter gewissen Umständen erlaubt sein sollen.

Ich bitte Sie zu bedenken, die EMRK und damit der Artikel 2 I/II EMRK im Jahr 1950 abgeschlossen wurde, d.h. nicht lange nach dem Ende des 2. Weltkrieges. Vor diesem historischen Hintergrund sind die Formulierungen zu verstehen, die tatsächlich missverständlich sein können, aber nur, wenn man gerade diesen historischen Hintergrund ausblendet. Beispielsweise galt in dieser Zeit noch die Todesstrafe in Frankreich. Die EMRK von 1950 war demzufolge ein erster politischer Kompromiss hin zu einer gesamteuropäischen Menschenrechtskonvention.

Spätestens aber mit dem Protokoll Nr. 6 zur EMRK von 1983 wurde die Todesstrafe in den Vertragsstaaten der EMRK abgeschafft. Artikel 2 II EMRK enthält einen Ausnahmetatbestand gegenüber der Regelung des Artikel 2 I („Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt. Niemand darf absichtlich getötet werden, außer durch Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die Todesstrafe gesetzlich vorgesehen ist.“), der ebenfalls unter den Regelungsgehalt des Protokolls Nr. 6 zur EMRK fällt. Artikel 2 EMRK blieb nach Artikel 2 Satz 1 dieses Protokolls lediglich unter gewissen Umständen zulässig, und zwar für „Taten welche in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden“. Diese Formulierung hatte jedoch nie eine praktische Relevanz, sondern war ein völkerrechtlicher Vorbehalt, der einigen Staaten für den Kriegsfall eingeräumt wurde, ohne den sie nicht zugestimmt hätten. Das Protokoll Nr. 13 zur EMRK von 2002 hat diese Einschränkung nun endgültig beseitigt und die Todesstrafe vollständig abgeschafft. Dies gilt auch für die Ausnahmeregelungen des Artikel 2 II EMRK.

In den allermeisten EU-Mitgliedstaaten gilt das rechtsverbindliche Zusatzprotokoll Nr. 13, welches die Todesstrafe vorbehaltlos abgeschafft hat. Die einzige Unsicherheit entsteht aus der Tatsache, dass in den wenigen EU-Mitgliedstaaten, die das Protokoll aus dem Jahr 2002 zwar unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben (zurzeit noch Italien, Lettland, Polen und Spanien) formal das Protokoll Nr. 6 weiter gilt.

Dies bedeutet aber nicht, dass in diesen Mitgliedstaaten mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und einem Beitritt der EU zur EMRK die Todesstrafe oder die Notstands- und Aufruhrregelungen der EMRK von 1950 eingeführt würden. Mit dem Vertrag von Lissabon wird gleichzeitig die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich. In Art. 2 der Grundrechtecharta ist das Recht auf Leben verankert, wonach gem. Art. 2 Abs. 2 "Niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden darf". Dies ist eine klare und eindeutige Aussage gegen die Todesstrafe. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben diesen Bestimmungen uneingeschränkt zugestimmt und wenden sie in der Praxis bereits heute an.

In Deutschland ist nach Art. 102 GG die Todesstrafe ohne Ausnahme seit 1949 abgeschafft und die Ratifikation des Vertrags von Lissabon wird hieran nichts ändern. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Protokoll Nr. 13 am 1. Februar 2005 ratifiziert. Im Übrigen hätte nach deutschem Verfassungsrecht eine Wiedereinführung der Todesstrafe auch vor dem nicht veränderbaren Grundrecht auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) keinen Bestand.

Ich hoffe, dass ich mit diesen Ausführungen Ihre Besorgnis gegenüber den Bestimmungen des Art. 2 EMRK nehmen konnte.

Mit freundlichen Grüßen

Annette Widmann-Mauz MdB

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