Sehr geehrte Frau Dr. Jurisch, warum setzen Sie das Urteil vom Bundesverfassungsgericht vom Februar 2020 was ein Recht auf das selbstbestimmte Sterben fordert nicht 1:1 um?
Der Bundestag hat nun schon 4 Jahre ins Land ziehen lassen.
Kennen Sie Personen, die so krank sind, dass sie eine Selbsttötung ernsthaft in Betracht ziehen?
Diesen bleibt nur der Weg in die Schweiz.
Freundliche Grüße

Sehr geehrte Frau D.,
vielen Dank für Ihre Nachricht. Ich verstehe, wie wichtig und emotional belastend dieses Thema ist – vor allem für Menschen, die selbst oder in ihrem Umfeld mit schweren Erkrankungen konfrontiert sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns mit seinem Urteil eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe übertragen: Wir sollen eine gesetzliche Grundlage schaffen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen in dieser letzten, höchstpersönlichen Lebensphase gerecht wird. Das ist keine leichte Aufgabe, da wir dabei das Recht auf Selbstbestimmung mit dem Schutz besonders verletzlicher Gruppen – wie Menschen mit psychischen Erkrankungen – in Einklang bringen müssen.
Ich bin daher sehr froh, dass wir als Abgeordnete bei dieser Frage ohne Fraktionszwang arbeiten. Das ermöglicht uns, über Fraktionsgrenzen hinweg gemeinsam nach der besten Lösung zu suchen.
Nach intensiver Auseinandersetzung mit den verschiedenen Vorschlägen habe ich mich dazu entschieden, den Gesetzentwurf zu unterstützen, den mein Kollege Benjamin Strasser (FDP) mitentwickelt hat (https://dserver.bundestag.de/btd/20/009/2000904.pdf). Dieser Vorschlag berücksichtigt aus meiner Sicht die berechtigten Wünsche nach Selbstbestimmung, schützt aber auch Menschen in Krisensituationen.
Es ist wichtig, an dieser Stelle einen Aspekt zu betonen: Rund 90 % aller Suizide stehen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, und über 60 % der Suizide werden von Menschen mit Depressionen begangen. Häufig ist ein Suizid ein verzweifelter Hilferuf – viele Überlebende berichten später, dass sie froh sind, überlebt zu haben. Deshalb ist es mir wichtig, dass unser Gesetzentwurf die Suizidprävention stärkt und sicherstellt, dass Menschen in schwierigen Lebenslagen eine individuelle und aufsuchende Unterstützung erhalten. Unser Ziel ist es, niemanden alleine zu lassen.
Gleichzeitig wollen wir, dass Menschen, die in einer medizinisch aussichtslosen Situation sind und selbstbestimmt sterben möchten, dies auch tun können – aber auf Grundlage einer bewussten Entscheidung. Deshalb enthält der Gesetzentwurf strenge Vorgaben: Die Beratung muss mindestens zwei Wochen, aber höchstens zwei Monate vor der Durchführung des Suizids stattfinden. So wollen wir sicherstellen, dass keine übereilten Entscheidungen getroffen werden. Zudem wird klargestellt, dass Sterbehilfeorganisationen keine eigenen finanziellen Interessen verfolgen dürfen. Organisationen, die keine ergebnisoffene Beratung sicherstellen, sollen nicht zugelassen werden.
Leider ist es uns im Bundestag bislang nicht gelungen, eine mehrheitsfähige Lösung zu finden, was ich sehr bedauere. Wir stehen allerdings in einem intensiven Dialog über diese Frage. Es ist bedauerlich, dass eine Einigung voraussichtlich erst nach der nächsten Bundestagswahl am 23. Februar erfolgen wird, da das Thema Zeit und breiten Konsens erfordert. Ich hätte mir eine schnellere Lösung gewünscht, um den Betroffenen rascher Perspektiven zu geben. Trotz der Dringlichkeit dieser Angelegenheit bleibt es unser Ziel, eine Lösung zu finden, die den Bedürfnissen der Menschen in dieser sensiblen Lebensphase gerecht wird.
Ich danke Ihnen nochmals für Ihre offenen Worte und Ihr Vertrauen. Wenn Sie weitere Fragen zu diesem Thema haben, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ann-Veruschka Jurisch