Frage an Anjes Tjarks von Dagmar T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Tjarks,
halten Sie es für sinnvoll Riesenwohnsilos für Flüchtlinge zu bauen? Nicht nur, das wir somit Brüssel mit
Molenbeek nacheifern, sondern wie stellen Sie sich Integration vor, wenn solche "Ghettos" entstehen? Im
Umland gibt es Wohnungen, warum müssen die Flüchtlinge in Hamburg unbedingt bleiben?
Sehr geehrte Frau T.,
vielen Dank für Ihre Anfrage. In der Tat ist es so, dass wir als Stadt, aber insbesondere auch als Senat und regierungstragende Fraktionen, vor der großen Herausforderung stehen, sehr viele Menschen in Hamburg menschenwürdig aufzunehmen. Dazu sind wir in erster Linie moralisch verpflichtet. Zum anderen rechtlich durch den sogenannten Königsteiner Schlüssel. Der Königsteiner Schlüssel entscheidet in Deutschland darüber, wie viele Flüchtlinge ein Bundesland aufnehmen muss. Er setzt sich zu 2/3 aus Wirtschaftskraft und zu 1/3 aus der Bevölkerungszahl zusammen. Hamburg ist das Bundesland mit der höchsten Wirtschaftskraft, muss also im Vergleich zu seiner Bevölkerungszahl die meisten Flüchtlinge aufnehmen.
Ich möchte diese enorme Herausforderung auch deutlich machen. Wir müssen bis Ende 2015 etwa 48.750 Menschen aufnehmen, im Jahr 2016 kann man - nach derzeitigen Stand - mit etwa weiteren 31.000 Personen rechnen. Das bedeutet, dass wir voraussichtlich Ende des Jahres 2016 knapp 80.000 (!) Flüchtlinge in Hamburg aufnehmen und menschenwürdig unterbringen müssen. Um das plastisch zu machen: Das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Stadt Flensburg. Dies zu bewältigen, wird der Verwaltung, aber auch der Stadt und den Bewohnern einiges abverlangen. Dies gilt umso mehr, insofern die Zeitspanne in der diese Menschen zu uns kommen, sehr kurz ist und wir deswegen sehr schnell und entschlossen handeln müssen.
Ich nehme an, dass wir uns sehr einig sind, dass viele der Unterkünfte die aktuell geschaffen werden, keine adäquaten Unterkünfte für die Flüchtlinge darstellen (Baumärkte etc.) und diese - gerade um auch Integration gewährleisten zu können - schnellstmöglich durch festen Wohnraum ersetzt werden müssen. Zudem sind wir in Hamburg auch in einer ganz anderen Lage als in vielen anderen Bundesländern. Wir haben keine kleinteilige Siedlungsstruktur, wir haben keinen Leerstand, wir haben keine leeren Bundeswehrliegenschaften, die wir einfach so nutzen können. Im Übrigen gilt: Wir haben als Bundesland keine Möglichkeit Flüchtlinge mit Verweis auf fehlende Unterbringungskapazitäten abzulehnen. Deswegen gibt es nur einen Ausweg: Wir müssen sehr schnell sehr viel Wohnraum schaffen, um die Lage bewältigen zu können.
Die Stadt prüft für die Schaffung entsprechender Unterbringungskapazitäten alle in Betracht kommenden Flächen. Gleichzeitig ist es ein - aus meiner Sicht sehr positives Novum - dass sich die Stadt entschlossen hat, für die Flüchtlinge feste, qualitativ hochwertige Wohnungen im Standard des sozialen Wohnungsbaus zu errichten. Für die Flüchtlinge werden die Wohnungen eine große Verbesserung ihrer Lebenssituation bringen, die auch ihre gesellschaftliche Integration voranbringt. Es gibt aber kein Patentrezept für die Entwicklung starker Quartiere aus den schwierigen Startbedingungen großer Flüchtlingsunterkünfte. Die rot-grüne Koalition verfolgt einen sozialräumlichen Ansatz, d.h. der Austausch und Kontakt mit den umliegenden Quartieren ist entscheidend und wird aktiv gefördert, jegliche Isolierung soll vermieden werden.
Anfang des Monats haben wir einen begleitenden Antrag mit 25 Maßgaben vorgelegt, der Rahmenbedingungen schafft, um aus den Wohnunterkünften funktionierende Quartiere in guter Nachbarschaft zu entwickeln.
Kernpunkte des Antrags sind:
- Mehr Ressourcen für die soziale Infrastruktur und die Regelsysteme, d.h. Schulen und Kitas bekommen zusätzliche Mittel für die Mehrbedarfe, zusätzliche Eltern-Kind-Zentren werden entstehen, die Gesundheitsversorgung wird gestärkt, Sportvereine und Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit und auch die Präsenz und Ansprechbarkeit der Polizei werden ausgeweitet. Die Leitgedanke ist: niemand soll Nachteile haben, weil in der Nachbarschaft ein neues Quartier für Flüchtlinge entsteht.
- Die Aufstockung der bezirklichen Quartiersfonds um 1 Million Euro pro Bezirk jährlich, um soziale Angebote und Projekte jenseits der Regelsysteme finanzieren zu können.
- Schneller Start eines Quartiersmanagements, das alle Beteiligten schon ab der Bauphase zusammen bringt. Damit sollen neutrale und qualifizierte Mittler beauftragt werden, die aus den verschiedenen Interessen gemeinsame Lösungen befördern sollen.
Wir werden dafür sorgen, dass die soziale Infrastruktur dieser und der umliegenden Stadtteile funktioniert. Konkrete Vorschläge hierzu diskutiere ich gerne weiter. Ich hoffe, ich konnte gleichzeitig ein wenig Verständnis für Schwierigkeiten der Unterbringungszahl wecken.
Mit freundlichen Grüßen
Anjes Tjarks