Frage an Anette Kramme von Sven S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Kramme,
am Donnerstag den 2. Juli soll im Bundestag der Gesetzesentwurf zum „Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung“ in die 2. und 3. Lesung gehen, sowie eine Beschlussempfehlung erfolgen.
Ich würde Sie gerne um eine Stellungnahme zu den drei Hauptkritikpunkten bitten.
1: Ausschluss der unbegleiteten Minderjährigen vom Bleiberecht für Heranwachsende
Diesen wird bei Einreise nach ihrem 17. Geburtag die besondere Schutzbedürftigkeit aberkannt.(§25a,§25b)
2: Massive Ausweitung von Haftgründen
Obwohl die Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 31 Abs. 1 GFK) die Inhaftierung von Schutzsuchenden untersagt, ist diese gängige Praxis. Das Gesetz sieht sogar eine Ausweitung vor. Es sieht vor, Schutzsuchende allein aus dem Grund zu inhaftieren, weil sie aus einem anderen Dublin-Staat eingereist sind, bevor dort über ihren Asylantrag entschieden wurde (§ 2 Abs. 15 Satz 2). Da Deutschland von diesen Staaten umgeben ist, träfe dies den Großteil der Geflüchteten, die unter die Dublin-III-Verordnung fallen. Hierbei würde das Gesetz gegen die Dublin-III-Verordnung selbst verstoßen.(§ 28 Abs. 1 der Dublin-III-VO)
3: Schärfere Diskriminierung von Geflüchteten aus den Westbalkanstaaten
Nach dem neuen Gesetz soll es möglich sein, Einreise- und Aufenthaltsverbote (§ 11 Abs. 7) für Geflüchtete zu verhängen, deren Asylantrag nach der „Sicheren-Herkunftsländer“-Regelung abgelehnt wurde. Besonders bedenklich ist, dass in dieser Situation eine Einreise für den gesamten Schengen-Raum gesperrt wäre. Weil die Westbalkanstaaten von EU-Staaten umgeben sind, würde den abgelehnten Schutzsuchenden damit faktisch ihr Menschenrecht auf Ausreise (Art. 13 AEM) aberkannt werden.
Des Weiteren möchte ich Sie bitten sich klar gegen eine Verschärfung des Asylrechts zu positionieren, als auch gegen die weitere Beschneidung dieses Grundrechts zu Stimmen.
Hochachtungsvoll
Sven Schröder
Die Linke / Bayreuth, stellv. Kreisverbandvorsitzender
Sehr geehrter Herr Schröder,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung wurde mit zahlreichen Änderungen verabschiedet. Die Neuregelung beinhaltet aus meiner Sicht nicht nur die von Ihnen skizzierten Negativpunkte, sondern durchaus auch Aspekte, die Flüchtlingen und Geduldeten zugutekommen:
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat in einer Stellungnahme für den Innenausschuss des Deutschen Bundestages durchaus Teile der Neuregelung begrüßt. Zum Beispiel waren das die Rechtsgrundlage für so genannte Resettlementflüchtlinge und die stichtagsfreie Bleiberechtsregelung, die gut integrierten Geduldeten unter bestimmten Voraussetzungen eine sichere Aufenthalts- und Lebensperspektive bietet. Außerdem begrüßte der EKD-Rat die Verbesserungen für die Opfer von Menschenhandel und die Gleichstellung beim Familiennachzug von subsidiär Geschützten mit Flüchtlingen.
Ferner hat die SPD eine gesetzliche Klarstellung bewirkt: Künftig gilt es ausdrücklich als Duldungsgrund, wenn Jugendliche und Heranwachsende eine Berufsausbildung aufnehmen. Das gibt Rechtssicherheit für Azubis und Arbeitgeber.
Sie kritisieren in Ihrem Schreiben die Neuregelung der Abschiebungshaft. Dazu möchte ich sagen, dass mir diese nicht als Verschärfung oder Ausweitung gegenüber dem Ist-Zustand für die Betroffenen erscheint. Die Rechtsgrundlage – Fluchtgefahr – bestand bereits zuvor und bleibt unverändert. Mit fünf der sechs Anhaltspunkte (der sechste ist ein Auffangtatbestand) wird nur das ins Gesetz geschrieben, was die Rechtsprechung seit Jahren urteilt.
Auch gibt die Neuregelung nur Anhaltspunkte für Fluchtgefahr. Es gibt keinen Automatismus, jeder Einzelfall muss gewürdigt werden.
Wir haben in den Verhandlungen durchgesetzt, dass die schon in der Vergangenheit bestehende Möglichkeit der Inhaftierung, wenn jemand erhebliche Geldbeträge für einen Schleuser ausgegeben hat, entschärft wird. Bisher hat die Rechtsprechung dies nur oberflächlich begründet. Wir haben die Darlegungs- und Begründungslast für Behörden und Gerichte erhöht. So wird der Anwendungsbereich gegenüber der bisherigen Rechtsprechung eingeengt.
Europarechtlich sind wir verpflichtet, Anhaltspunkte für Fluchtgefahr auch für Rücküberstellungen nach der Dublin III-Verordnung gesetzlich zu bestimmen. Das tun wir mit dem Gesetz. In diesen Fällen reicht aber keine einfache Fluchtgefahr. Der Richter muss vielmehr eine erhebliche Fluchtgefahr feststellen. Das ist eine besonders hohe Hürde, die aus dem Regierungsentwurf nicht unmittelbar ersichtlich war. Deshalb haben wir einen klarstellenden Verweis auf die VO aufgenommen, die die Erheblichkeit ausdrücklich benennt.
Kritisch sehe ich, dass ein viertägiger Ausreisegewahrsam geschaffen wird. Leider regiert die SPD nicht alleine, und ohne den Ausreisegewahrsam hätte die Union das Gesetz als Ganzes nicht mitgetragen.
Ebenfalls kritikwürdig ist, dass neue Einreise- und Aufenthaltsverbote geschaffen werden. Die SPD konnte in den Verhandlungen mit der Union ihren Anwendungsbereich immerhin auf ein vertretbares Maß reduzieren: Er erfasst nur noch Personen, die aus sicheren Herkunftsstaaten gekommen und abgelehnt worden sind sowie Personen, die mit dem zweiten Asylfolgeantrag, also insgesamt drei Mal, abgelehnt worden sind.
Das Ausweisungsrecht wird neu geregelt. Das war wegen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Europäischen Gerichtshofes und des Bundesverwaltungsgerichtes erforderlich. Das Gesetz war längst nicht mehr europarechtskonform. Auch hier wurden auf Drängen der Union die Ausweisungsgründe teilweise verschärft, zugleich konnte die SPD aber die Verbesserungen beim Ausweisungsschutz, u.a. für Minderjährige und Opfer von Menschenhandel, durchsetzen.
Bei der Abschiebungshaft wollte die Union die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde der Betroffenen in Abschiebungshaftsachen abschaffen. Wir haben uns gegen diese Verschlechterung des Rechtsschutzes gewehrt. Stattdessen haben wir gebilligt, dass die zulassungsfreie Rechtsbeschwerde auch für die Behörde zugelassen wird.
Auf Drängen der Union haben wir bei den Sprachkenntnissen vor Einreise beim Ehegattennachzug die Aufnahme einer Härtefallregelung ins Gesetz akzeptiert. Wir hätten die Regelung lieber ganz abgeschafft. Das war leider nicht durchsetzbar. Zumindest können nun aber Härten im Einzelfall berücksichtigt werden.
Das Bleiberecht für Geduldete zu verbessern, fordere ich seit Jahren. Da es sich um so viele Menschen handelt und da es groteske Fälle der Ausweisung nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland gegeben hatte, waren mir die entsprechenden Änderungen im Bleiberecht wichtig. Natürlich hat das Gesetz auch Schattenseiten. Ich bin jedoch froh, dass die SPD es geschafft hat, noch einige Änderungen durchzusetzen.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass wir in dieser Legislaturperiode durchaus bereits einige Verbesserungen auf den Weg bringen konnten:
- Der Arbeitsmarktzugang für Asylbewerber und Geduldete ist bereits nach drei Monaten möglich (bisher 9 bzw. 12 Monate). Hier wird nach 15 Monaten Aufenthalt die Vorrangprüfung der Bundesagentur für Arbeit komplett entfallen (diese prüft, ob nicht ein deutscher Staatsbürger oder EU-Bürger die jeweilige Stelle besetzen könnte), bei einigen Berufen entfällt die Vorrangprüfung sofort (akademische Berufe und Engpassberufe).
- Um Asylbewerbern und Geduldeten Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, haben wir endlich die sog. Residenzpflicht abgeschafft. Nach drei Monaten, also der Phase der Erstaufnahme, dürfen sich die Menschen frei im Bundesgebiet bewegen. Bisher mussten sie um Erlaubnis bei der zuständigen Behörde fragen, um temporär den jeweiligen Landkreis oder das Land verlassen zu dürfen. Eine Wohnsitzauflage wird beibehalten, um gerechte Kostenteilung zwischen den Kommunen zu gewährleisten.
- Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ist endlich verfassungskonform und sichert ein menschenwürdiges Existenzminimum. Das hatte die Vorgängerregierung nicht geschafft. Im AsylbLG werden die Leistungen erhöht. Bereits nach 15 Monaten (statt bisher 48) gibt es Leistungen entsprechend SGB XII. Gruppen mit bestimmten humanitären Aufenthaltstiteln werden sofort oder nach kurzer Zeit in die Regelsysteme des SGB II oder XII überführt. Endlich gilt nach drei Monaten der Grundsatz: Geld- statt Sachleistungen! Und alle Kinder haben ab dem ersten Tag Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket.
- Die Bundesregierung und die Länder haben über Sonderkontingente 25.000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus den Anrainerstaaten Syriens aufgenommen. Insgesamt sind seit 2011 über 70.000 syrische Staatsbürger zu uns gekommen. Weitere EU-Staaten sollten diesem Beispiel folgen.
- Der Bund und die Länder entlasten die Kommunen: In 2015 stellt der Bund 500 Millionen Euro über einen einmaligen Festbetrag an der Umsatzsteuer zur Verfügung. Weitere 500 Millionen Euro folgen in 2016, wenn die finanzielle Belastung der Länder unverändert fortbesteht. Die hälftige Refinanzierung der vom Bund jeweils zur Verfügung gestellten Beiträge wird durch die Länder über einen Zeitraum von zwanzig Jahren übernommen. Die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben überlässt Flächen zur Unterbringung von Flüchtlingen künftig mietzinsfrei, so sparen Kommunen und Länder jährlich 25 Millionen Euro. Das Baurecht wurde ebenfalls geändert, damit schneller Gebäude für die Unterbringung gebaut und genutzt werden können – auch auf siedlungsnahen Grundstücken und ggf. in Gewerbegebieten.
Auch diese Punkte sollten in der Gesamtschau Beachtung finden.
Mit freundlichen Grüßen
Anette Kramme