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Abgeordnete verstießen hundertfach gegen Transparenzvorschriften – ohne Konsequenzen

Verspätet gemeldete Bonuszahlungen, verborgene Lobbyjobs: Abgeordnete haben in den vergangenen Jahren hundertfach gegen die Transparenzpflichten verstoßen. Das belegen Unterlagen, die der Bundestag nach einer Klage von abgeordnetenwatch.de herausgeben musste. Die Zahlen stützen eine lang gehegte Vermutung.

von Martin Reyher, 26.02.2022
Deutscher Bundestag

Als Annalena Baerbock ihre Boni als Grünen-Chefin im Mai 2021 mit großer Verspätung nachmeldete, war die Aufregung groß. Tatsächlich war Baerbocks laxer Umgang mit den Transparenzpflichten aber nur einer von vielen Fällen – die sichtbare Spitze eines gigantischen Eisbergs. 

Interne Zahlen, die der Bundestag nach einer Klage von abgeordnetenwatch.de herausgeben musste, zeigen erstmals das Ausmaß der Pflichtverstöße. Offiziell bestätigt hatte der Bundestag bislang lediglich zehn Fälle seit Inkrafttreten der Transparenzvorschriften im Jahr 2005. Sie waren als schwerwiegend eingestuft und vom Bundestagspräsidenten öffentlich gemacht worden. 

Nun aber zeigt sich: Abgeordnete legten ihre Nebentätigkeiten oder Einkünfte in hunderten Fällen nicht korrekt offen. Von den früheren Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und Norbert Lammert (beide CDU) waren sie, wie im Fall Baerbock, als minder schwer beziehungsweise als leichte Fahrlässigkeiten gewertet und bislang nicht veröffentlicht worden. 

Wer die Abgeordneten sind, bleibt unklar – wegen der "Schutzwürdigkeit der Daten"

Allein in den ersten zehn Monaten des Jahres 2021 gab es 95 Fälle, in denen der damalige Parlamentspräsident Schäuble eine Prüfung wegen eines möglichen Pflichtverstoßes einleitete – 71 Mal stellte er einen solchen Verstoß am Ende fest. 

Spürbare Konsequenzen hatte das jedoch nicht. Siebenmal kamen Abgeordnete mit einer internen Ermahnung davon. In 64 Fällen wurden Parlamentarier:innen von Schäuble daran erinnert, die Verhaltensregeln doch bitte beim nächsten Mal einzuhalten. 

Wer die Abgeordneten sind, die gegen die Offenlegungspflichten verstoßen haben, ist unbekannt. Angaben zu einzelnen Parlamentarier:innen könne man nicht machen, dem stehe „die Schutzwürdigkeit dieser Daten“ entgegen, sagt die Bundestagsverwaltung. 

Doch auch die rein statistischen Angaben, die neben abgeordnetenwatch.de auch der taz vorliegen, sind aufschlussreich. Sie stützen eine lang gehegte Vermutung: Dass Abgeordnete sich möglicherweise deswegen nicht an die Verhaltensregeln halten, weil sie keine spürbaren Konsequenzen zu befürchten haben.

Nach der Bundestagswahl 2017 explodierten die Zahlen

Als 2005 die Offenlegungspflicht für Nebentätigkeiten eingeführt wurde, gab es zunächst nur wenige Verstöße – in manchen Jahren waren es gerade einmal eine Handvoll. In der ersten Legislaturperiode nach Inkrafttreten (2005 bis 2009) leitete der Bundestagspräsident insgesamt 27 Prüfverfahren ein. In den beiden folgenden waren es mit 91 und 89 schon deutlich mehr. In den allermeisten Fällen stellte er einen Verstoß fest. 

Nach der Bundestagswahl 2017 explodierten dann die Zahlen. Die Prüfverfahren im Laufe der 19. Legislaturperiode vervierfachten sich auf 388. In 288 Fällen wies der Präsident die Abgeordneten auf ihren Pflichtverstoß hin, achtmal sprach er eine interne Ermahnung aus, fünf Abgeordnete erhielten eine öffentliche Rüge.

Verstöße von Abgeordneten gegen die Verhaltensregeln (Übersicht der Fallzahlen nach Legislaturperioden, siehe dazu Angaben im Artikel)

Hunderte Pflichtverstöße, aber nur eine Sanktion

Die starke Zunahme seit 2017 lässt sich nicht allein damit erklären, dass der Bundestag seinerzeit mit 709 Abgeordneten auf eine Rekordgröße angewachsen war. Wahrscheinlicher ist, dass sich Abgeordnete mit der Zeit daran gewöhnt haben, dass ein Pflichtverstoß ohne spürbare Folgen bleibt. 

Es dauerte bis 2019, als erstmals eine Abgeordnete wegen des Verstoßes gegen die Verhaltensregeln zur Rechenschaft gezogen wurde. Damals musste die inzwischen verstorbene CDU-Politikerin Karin Strenz ein Ordnungsgeld in Höhe von rund 20.000 Euro zahlen. Sie hatte Einkünfte aus einem Lobbyjob lange Zeit vor der Öffentlichkeit verheimlicht, was durch Recherchen von abgeordnetenwatch.de publik geworden war. (In den Jahren 2008 und 2009 hatte der Bundestagspräsident schon einmal ein Ordnungsgeld gegen zwei Abgeordnete verhängt. Diese wehrten sich dagegen aber erfolgreich vor Gericht.)

Besonders wild trieb es der CSU-Abgeordnete Max Straubinger

Und so interpretierten manche Abgeordnete die Verhaltensregeln des Deutschen Bundestags wohl lange Zeit als eine unverbindliche Handlungsempfehlung. Besonders wild trieb es der CSU-Politiker Max Straubinger. Zwischen 2011 und 2019 hielt sich der Abgeordnete in keinem einzigen Jahr an die Verhaltensregeln. Zunächst ließ er sich mit den Meldungen seiner Nebentätigkeiten und Einkünften mehrere Monate Zeit, später war die Fristüberschreitung sogar in Jahren zu messen.
   

Max Straubinger, CSU-Bundestagsabgeordneter

Die Verstöße betrafen Straubingers damalige außerparlamentarische Tätigkeiten als Generalvertreter der Allianz-Versicherung, als Beirat des bayerischen Sparkassenverbandes und als Landwirt. Mehr als 700.000 Euro nahm Straubinger mit diesen Nebenjobs ein, doch über viele Zahlungseingänge ließ er die Öffentlichkeit mehrere Monate bzw. Jahre im Unklaren.

Irgendwann waren die kontinuierlichen Meldeverstöße des CSU-Abgeordneten auch dem ansonsten oft nachsichtigen Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble zu viel. Im April 2019 stellte dieser in der Drucksache 19/17700 rund zwei Dutzend Verstöße von Straubinger gegen die Verhaltensregeln fest. Die Veröffentlichung kam einer öffentlichen Rüge gleich, hatte darüber hinaus aber keine weiteren Konsequenzen.

Der erste Pflichtverstoß ist "geschenkt"

Bemerkenswert ist, was Straubinger anschließend gegenüber der Süddeutschen Zeitung mitteilte. Demzufolge habe „bis Ende 2018 niemand moniert, wenn man die Einnahmen nicht rechtzeitig gemeldet hat". Dass der Bundestagspräsident mit einem Mal genauer hinsah, könnte an einer Klage von abgeordnetenwatch.de gegen die Bundestagsverwaltung aus dem Oktober 2018 gelegen haben – eben jene Klage, die nun zur Herausgabe der Zahlen über die hundertfachen Pflichtverstöße geführt hat.

Dass zahlreiche Abgeordnete einen Verstoß gegen die Verhaltensregeln als lässliche Sünde sehen, hat auch mit dem zu tun, was die Bundestagsverwaltung eine „Reaktionskaskade“ nennt. Gemeint ist eine Art Freischuss: Der erste Pflichtverstoß eines Abgeordneten ist demnach „geschenkt“. Laut Bundestagsverwaltung läuft das Prozedere wie folgt ab: Abgeordnete werden „als Reaktion auf einen ersten Verstoß gegen die Anzeigefrist auf den Fristverstoß hingewiesen“. Erst bei wiederholten Verstößen folgen „die jeweiligen weiteren Stufen (Ermahnung durch den Präsidenten, Feststellung durch das Präsidium, Feststellung durch das Präsidium + Festsetzung eines Ordnungsgeldes)“. 

Laut der internen Erhebung des Bundestags wurden Abgeordnete seit Inkrafttreten der Regeln im Jahr 2005 insgesamt 451 Mal auf einen Verstoß gegen die Verhaltensregeln hingewiesen. In 29 Fällen erhielten sie eine interne Ermahnung, in zehn Fällen wurden Abgeordnete öffentlich gerügt. Hinzu kommt das erwähnte Ordnungsgeld gegen die Abgeordnete Strenz – die bis heute einzige Sanktion.

Formblatt zur Meldung von Nebentaetigkeiten
Formblatt für Abgeordnete zur Meldung ihrer Nebentätigkeiten und Einkünfte bei der Bundestagspräsidentin (Ausriss)

Wenn es der Bundestag ernst meint, müsste er ein unabhängiges Gremium einsetzen

Mittlerweile wurden die Verhaltensregeln verschärft. Mit Beginn der laufenden Legislaturperiode im Oktober 2021 wurde die Freischuss-Regelung abgeschafft. Nun wird eine Ermahnung immer dann ausgesprochen, wenn „ein minder schwerer Fall beziehungsweise leichte Fahrlässigkeit vorliegt“. Als Beispiel wird im Abgeordnetengesetz eine „Überschreitung von Anzeigefristen um höchstens drei Monate“ genannt. Alles darüber hinaus gilt demnach nicht als „minder schwer“ bzw. nicht als leichte Fahrlässigkeit und kann im äußersten Fall mit einem Ordnungsgeld in Höhe von maximal einer halben Jahresdiät geahndet werden.

Neu ist auch, dass die Bundestagspräsidentin künftig zu Beginn einer Legislaturperiode einen Transparenzbericht vorlegen muss. Dieser wird unter anderem jene statistischen Angaben zu den Pflichtverstößen enthalten, die der Bundestag jahrelang vor abgeordnetenwatch.de geheim gehalten und nun herausgegeben hat.

Fraglich ist, ob das ausreicht, damit Abgeordnete die Verhaltensregeln künftig einhalten. Wenn der Bundestag es ernst meint, müsste er ein unabhängiges Gremium für die Prüfung von Verstößen einsetzen und der Parlamentspräsidentin einige Kompetenzen entziehen. Dass dies geschieht, ist unwahrscheinlich: Im Bundestag haben sich mit den bisherigen Abläufen und Zuständigkeiten alle gut eingerichtet.

Update 1. November 2022:

Die Bundestagspräsidentin hat erstmals einen Bericht über die Verstöße gegen die Verhaltensregeln durch Abgeordnete vorgelegt.

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