Frage an Wolfgang Schäuble von Michael B. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Dr. Schäuble,
in der geplanten Änderung des GG, Art. 35, Abs. 4, wird der Begriff des "besonders schweren Unglücksfalles" verwendet.
Eine kurze Suche im Intenet ergibt folgende Interpretation: "Unglücksfall ist jedes plötzlich eintretende Ereignis, das erhebliche Gefahren für Menschen oder (jedenfalls bedeutenden) Sachen hervorruft oder hervorzurufen droht (BGH NJW 1954, 1049; Lackner/Kühl § 323 c Rn 2). Ein Schaden muss demnach noch nicht eingetreten sein.".
Da wir immer wieder feststellen mussten, dass Gesetze so formuliert werden, dass "sie nur von Fachleuten verstanden werden" (laut Frau Zypries), hätten wir gerne eine Präzisierung des Begriffes "Unglücksfall".
Wo finden wir ein Katalog der in Betracht kommenden Fälle? Ist darunter auch der Fall einbegriffen, dass Sparer die Banken (also bedeutende Sachen) stürmen um ihre Einlagen herauszuholen?
MfG
Michael Baleanu
Sehr geehrter Herr Baleanu,
die Rechtssprache, insbesondere auf der Normebene des Verfassungsrechts, ist darauf angewiesen, so genannte unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, um einerseits präzise, andererseits abstrakt-generell eine normative Umschreibung von einer denkbaren Vielzahl von Lebenssachverhalten zu leisten. Dabei sind die juristischen Auslegungsmethoden anzuwenden, die auf die Entstehungsgeschichte und den Willen des Gesetzgebers, auf den systematischen Zusammenhang einer Norm und ihre Zweckrichtung abstellen.
Der Begriff des "besonders schweren Unglücksfalles", wie er für den neuen Artikel 35 Abs. 4 des Grundgesetzes vorgesehen ist, schwebt nicht im luftleeren Raum. Vielmehr baut dieser neue Absatz 4 auf den geltenden Absätzen 2 und 3 der Vorschrift auf, die für weitere, bereits geregelte Fälle der besonderen Amtshilfe u.a. die Hilfeleistung bei einer "Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall" regeln. Er trifft insoweit eine Spezialregelung, indem er für die dort geregelten Fälle unter engen zusätzlichen Voraussetzungen die Anwendung besonderer - militärischer - Mittel zulässt und insoweit besondere Anordnungs- und Weisungsbefugnisse der Bundesregierung normiert. Die Formulierung soll - der Auslegung entsprechend, die dieser Begriff im Kontext der besonderen Amtshilfe nicht zuletzt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz vom 15. Februar 2006 gefunden hat - auf alle Fälle "von Dritten absichtlich herbeigeführter" Schadensereignisse anwendbar sein.
Der von Ihnen im Internet recherchierte Begriff des "Unglücksfalls" aus der Vorschrift über die Ausgangssituation der Hilfeleistungspflicht für die strafrechtliche Bewehrung der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c des Strafgesetzbuchs) ist nicht deckungsgleich, sondern weiter gefasst, und stellt für den von Ihnen angesprochenen, anders gelagerten verfassungsrechtlichen Zusammenhang keinen Maßstab dar.
Hinsichtlich des von Ihnen geschilderten Szenarios eines Ansturms auf Banken möchte ich Sie in zweierlei Hinsicht beruhigen. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass die vorgesehene Formulierung des Artikels 35 Abs 4 des Grundgesetzes eine "allgemeine" oder pauschale Ermächtigung zum Streitkräfteeinsatz im Inland selbstverständlich nicht enthält. Jeder Einsatz aufgrund der vorgeschlagenen Vorschrift setzt nicht nur die konkrete Gefahr eines besonders schweren Unglücksfalles im vorgenannten Sinne voraus, sondern außerdem eine Bedrohung, die nur mit militärischen Mitteln abgewendet werden kann. Sind - in qualitativer Hinsicht - polizeiliche Mittel ausreichend, ist der Einsatz dagegen unzulässig. Das schließt den Einsatz der Bundeswehr als "Hilfspolizei" im Innern und allgemeine Objektschutz-Aufgaben aus. Da Sie mit Ihrem Beispiel auf die aktuelle Finanzmarktkrise anspielen, möchte ich Ihnen darüber hinaus versichern, dass die Bundesregierung an Ihrer Zusage an alle Sparer festhält und mit dem international vereinbarten Maßnahmenbündel einen entscheidenden Beitrag zur Krisenbewältigung leistet. In Deutschland ist daher ein Stürmen der Banken nicht zu befürchten.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Wolfgang Schäuble