Frage an Wolfgang Schäuble von Klaus T. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Schäuble,
ich möchte gern wissen, ob es hinsichtlich der Wiedervereinigung Klärungsbedarf gibt hinsichtlich:
1. Wieso steht in der Präambel des Grundgesetzes, dass auch die ostdeutschen Länder in freier Selbstbestimmung die Einheit vollendet hätten. Die Länder gab es noch nicht. Die rasch in den Einigungsvertrag aufgenommene Formulierung über die 0.00-Uhr-Länderbildung am 3. Oktober 1990 bedeutet ja nicht, dass es Entscheidungsgremien für eine Zustimmung gegeben hätte.
2. Wenn die so genannten Neuen Bundesländer aber faktisch erst ab den Wahlen am 14. Oktober 1990 existierten, wer ist dann am 3. Oktober dem Wirkungsbereich des Grundgesetzes beigetreten? War damit nicht die DDR 12. Bundesland?
3. Glauben Sie, dass die Volkskammer das Recht hatte, ihre Selbstauflösung und das Ende der Existenz der DDR zu beschließen? Paragraf 65 der damals gültigen DDR-Verfassung setzte bei Entwürfen „grundlegender Gesetze“ eine Volksaussprache voraus. Diese auszusetzen, käme ja wohl einem Putsch gleich.
4. Wenn die Neuen Bundesländer (plus Bayern) dem Grundgesetz nicht zugestimmt hätten,würde dann das Grundgesetz seine Zwei-Drittel-Mehrheit (ohne Bayern) verlieren und eine neue Verfassung 125 nötig machen?
Niemand ist glücklicher als ich über die Einheit. Aber in einer etwas anderen Reihenfolge, nämlich der Länderbildung einige Zeit vor dem Beitritt (der nach der Zustimmung der Alliierten nicht mehr überstürzt werden müssen) hätte eine Menge an Einnahmen für die ostdeutschen Länder retten können (Energie, Versicherungen, Handel usw. ging alles sofort in westdeutsche Hände, anstatt über die ostdeutschen Länder privatisiert zu werden). Wieso wurde nicht das Modell Saarland angewendet, wo für zwei Jahre nach der Eingliederung die Entscheidungen über Wirtschaft usw. im Lande blieben? Immerhin hat es die DDR geschafft, innerhalb eines Jahres aus einem Unrechtsstaat ein Rechtsstaat zu werden. Hat die DDR stümperhaft verhandelt?
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Taubert
Sehr geehrter Herr Taubert,
Ihre Annahme, wonach mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 die neuen Länder (sowie der Teil Berlins, in dem das Grundgesetz bisher nicht galt) der Bundesrepublik Deutschland beigetreten seien, ist so nicht richtig. Vielmehr ist auf der Grundlage des Artikels 23 des Grundgesetzes (alter Fassung) der mit dem Einigungsvertrag vereinbarte und nach dessen Ratifizierung mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 vollzogene Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland erfolgt. Die zusammen mit den übrigen beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes neugefasste Präambel nimmt Bezug auf die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bereits gesetzlich geregelte (Wieder-)Errichtung der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (vgl. Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern in der Deutschen Demokratischen Republik - Ländereinführungsgesetz - vom 22. Juli 1990, geändert durch Verfassungsgesetz vom 13. September 1990 (GBl. DDR I S. 1567), Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl. II S. 889), Anlage II, Kapitel II, Sachgebiet A, Abschnitt II). Der Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist also die Deutsche Demokratische Republik in der bereits mit dem Ländereinführungsgesetz der DDR bestimmten Gliederung in die genannten Länder. Die neuen Länder sind damit sowohl rechtlich als auch faktisch bereits zum 3. Oktober 1990 und nicht erst zu einem späteren Zeitpunkt gebildet worden.
Der Einigungsvertrag vom 31. August 1990 ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, dem die gesetzgebenden Körperschaften beider Staaten mit den für Verfassungsänderungen erforderlichen Mehrheiten zugestimmt haben. Auf Seiten der DDR erfolgte die Ratifizierung mit Beschluss der Volkskammer von 23. August 1990, auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland mit dem Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl. II S. 885). Dass die Volkskammer verfassungsrechtlich zur Ratifizierung des Einigungsvertrages befugt war und das Votum für die deutsche Wiedervereinigung von der überwältigenden Mehrheit der Menschen in der ehemaligen DDR nicht nur mitgetragen wurde, sondern gerade politisch gewollt war, steht für mich außer Zweifel. Dies gilt im Übrigen auch für die nicht nur mit dem Beitritt, sondern durch die nachfolgenden Wahlen manifestierte Akzeptanz des Grundgesetzes, das seither die Verfassung des vereinten Deutschlands bildet.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, welche Entwicklung unser Land genommen hätte, wenn die deutsche Vereinigung in anderer Form und in anderen Zeiträumen vollzogen worden wäre. Ich möchte damit nicht in Abrede stellen, dass manches anders und vielleicht besser hätte gemacht werden können und denke dabei insbesondere an die noch nicht vollständig erreichte Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnissee in Ost und West. Bei Überlegungen dieser Art bitte ich aber stets auch darum, sich die damalige innen- und außenpolitische Situation zu vergegenwärtigen und nicht nur aus der Rückschau zu urteilen. Vor diesem Hintergrund bin ich nach wie vor überzeugt, dass beide Seiten seinerzeit richtig und angemessen gehandelt haben und wir nur so die historische Chance zur Überwindung der Teilung Deutschlands ergreifen konnten.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Wolfgang Schäuble