Frage an Wolfgang Gehrcke-Reymann von Lepke N. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Gehrcke,
ich bin Studentin in Frankfurt und leide zur Zeit unter der umfassenden Umstellung diverser Studienfächer auf den Bachelor. Ich benutze bewusst den Begriff leiden, weil ich diese Änderung im Bildungssystem für unverantwortlich halte. Sicher gibt es Studienfächer, in denen 6 Semester Unterricht genügen, ich muss aber sagen, dass dies auf die meisten nicht zutrifft. Kann man denn allen Ernstes behaupten, dass 3 Jahre Universität genügen, um anschließend für irgendeinen Beruf qualifiziert zu sein? Ich glaube nicht.
Wenn man zudem noch bedenkt, dass viele Studenten nicht mehr zu Hause wohnen und ihren Lebensunterhalt mit Jobben selbst finanzieren müssen (denn in teuren Städten wie z.B. Frankfurt, Hamburg oder München reicht Bafög nunmal einfach nicht aus), ist das Tempo, der enorme Leistungsdruck in dieser kurzen Zeit meiner Meinung und Erfahrung nach unzumutbar.
Ich befasse mich mit diesem Problem aufgrund meiner persönlichen Situation und der von den Menschen in meiner Umgebung. Von anfänglich etwa 120 Studenten haben nun, nach 4 Semestern weit über 50% das Studium abgebrochen und ich persönlich sehe mich nach der Uni mit einem ungefähren Halbwissen da stehen, da wie gesagt, meiner Meinung nach 6 Semester schlicht und ergreifend nicht genügen, um von sich behaupten zu können, dass man sein Gebiet beherrscht. Für mich fühlt sich das alles momentan nicht nach Hochschule an, sondern nach einem crash kurs.
Sollte es nicht Ziel der alten und auch der neuen Regierung sein, dafür zu sorgen, dass junge Menschen eine gute, solide und vor allem qualifizierende Ausbildung erhalten?
Kurz gesagt: Die Menge des Lernstoffs steht in keiner angemessenen Relation zu der Zeit die uns für die Aneignung gegeben wird.
Halten Sie und Ihre Partei es für eine gute Idee, ein "je schneller umso besser-Bildungssystem" beizubehalten oder können Sie Änderungen in Erwägung ziehen, die eine gut ausgebildete Jugend in den Startlöchern hervorbringen können?
Sehr geehrte Frau Nasrin,
um gleich mit Ihrer Schlussfrage anzufangen: Nein, ich halte es überhaupt nicht für eine gute Idee, das Bildungssystem dem Prinzip „Schneller, kürzer, billiger“ zu unterwerfen. Diese Hochschulreform, die ja europäisch koordiniert umgesetzt wird und den guten Namen der alten Stadt Bologna „beschmutzt“, hat das erklärte Ziel, mit möglichst wenig öffentlichen Mitteln, möglichst viel privatem Beitrag, also Studiengebühren, Privatunis usw, möglichst viele Studierende durch die Uni zu schleusen. Zu Zeiten der Studentenbewegung der 70er wurde das als „Produktion erfinderischer Zwerge“ bezeichnet.
Ich bin kein Bildungspolitiker, aber ich wage die Behauptung: diese „Reform“ ist eine Katastrophe für unser Land, weil gut ausgebildete Wissenschaftler fehlen werden, für ganze Studierenden-Generationen, die ein schlechtes Studium absolvieren und ihrer Zukunftschancen beraubt werden. Wir brauchen eine Hochschulreform im Interesse der Jungen Leute, unseres Landes, im Interesse der Zukunft. Diese Hochschulreform darf nicht noch einmal ein Reißbrettprodukt sein, ausgebrütet mit dem Round Table of European Industrialists und anderen Lobby-Gruppen, sondern muss Studierende, Wissenschaftler, gesellschaftliche Gruppen, Gewerkschaften, Umweltverbände, Friedensbewegung, ... einbeziehen. Denn was an den Unis passiert, geht alle an. Was es heißt, sie Kapital- und Konzerninteressen zu unterwerfen, zeigt der gegenwärtige Zustand in aller Deutlichkeit!
Dagegen hilft nur Widerstand. Des Widerstands der LINKEN im Bundestag kann ich Sie versichern. Aber es braucht auch den Druck von der Straße, aus den Unis, den Seminaren und Vorlesungen. Der Bologna-Prozess muss gestoppt werden.
Im übrigen ist unsere bildungspolitische Sprecherin Nele Hirsch. www.nele-hirsch.de/, die ich Ihnen als Ansprechpartnerin empfehlen würde.
Herzlichen Dank für Ihre Frage und Alles Gute!
Wolfgang Gehrcke