Frage an Winfried Nachtwei von Helene und Dr.Ansgar K. bezüglich Innere Sicherheit
Lieber Winni,
In dem Artikel der Westf. Nachrichten http://www.westfaelische-nachrichten.de/aktuelles/politik/ausland/630413
wird von Deinem Afghanistan-Aufenthalt berichtet. Zitat aus den WN: ´Für den Münsteraner ist ohne wenn und aber klar: "Isaf muss bleiben. Ein Sofortabzug wäre verantwortungslos."´ Bist Du also nicht der Meinung, dass ein definitiver Abzugsplan notwendig ist, um eine Katastrophe in Afghanistan zu vermeiden?
2. Frage: Warum hast Du eine Stellungnahme zu der anstehenden Abstimmung über deutsche Truppenerhöhung und den Einsatz von Awacs vermieden? Zumindest findet sich keine Erwähnung dieses brisanten Problems in den WN. Wie wirst Du Dich in dieser Abstimmung verhalten
3. Frage: Wir wissen, dass Du in Kabul eine Unterredung mit Dr. Aminzay, dem Vorsitzenden der am 8./9. Mai 2008 gebildeten Friedens-Jirga , gehabt hast. Diese Versammlung aus 3000 Stammesvertretern, Intellektuellen und Politikern aus allen Teilen Afghanistans repräsentiert vor allem die breite, kriegsmüde Bevölkerungsmehrheit, die sich dringend nach Frieden und einem Abzug der ausländischen Soldaten sehnt., wie wir durch den Auslandsvertreter dieser Jirga wissen.
Warum findet die Unterredung mit Dr. Aminzay keine Erwähnung in dem Zeitungsbericht.
In Erwartung Deiner Antworten
Helene und Ansgar Klein
Liebe Helene, lieber Ansgar,
zurück von meiner 10-tägigen Reise nach Süd-, Zentral- und Nordafghanistan möchte ich Eure Fragen zu dem Artikel in den Westfälischen Nachrichten vom 19.8. beantworten:
(1) Alle afghanischen Gesprächspartner, insbesondere zivilgesellschaftliche KritikerInnen der Karzai-Regierung, lehnten einen Sofortabzug von ISAF ab: zu massiv seien die internen Konflikte (Macht, Ressourcen, Familien), zu stark die verschiedenen Gewaltakteure, zu stark der Terrorzustrom aus Pakistan. Bei einem Sofortabzug drohe ein Rückfall in die Bürgerkriegszeit der frühen 90er Jahre. Die Konsequenz darf aber nicht ein weiter so sein. Notwendig ist vielmehr (a) eine kritische Überprüfung und Revision des internationalen zivilen und militärischen Engagements, (b) die verbindliche Einigung auf die Priorität von Schutz und Wohlergehen der Bevölkerung (statt Primat der militärischen Terror- und Aufstandsbekämpfung) nicht nur auf dem Papier, sondern in der alltäglichen Praxis; (c) die verstärkte Suche nach politischen Konfliktlösungen angefangen auf der Ebene der Distrikte und die Unterstützung verständigungsbereiter Kräfte; (d) die massive Förderung von Arbeit und Einkommen zuerst in der vernachlässigten Landwirtschaft; (e) die forcierte Förderung afghanischer Sicherheitsstrukturen und Rechtsprechung als Voraussetzung für Reduzierung und Abzug von ISAF. Sofort abziehen müssen allerdings die Spezialtruppen der Operation Enduring Freedom: Für sie gibt es längst keine Rechtsgrundlage mehr; ihre Einsätze laufen mehr auf Terrorförderung statt Eindämmung von Gewalt und Terror hinaus.
(2) Ein Hauptmangel der deutschen Afghanistan-Debatte ist seit Jahren ihre Fixierung und Reduzierung auf Militärfragen (ISAF-Beteiligung, Obergrenzen etc.) und die notorische Vernachlässigung der politischen und entwicklungspolitischen Fragen. Mein Hauptinteresse galt deshalb der Erkundung der – sehr unterschiedlichen - Lagen vor Ort und vor allem der Suche nach Auswegen aus der Gewaltspirale und der wachsenden politischen Depression und Krise. Im Hinblick auf die Bundestagsabstimmung im Herbst fordere ich die Bundesregierung auf, in das Mandat Selbstverpflichtungen für zentrale Felder des Aufbaus mit auf zu nehmen. Diese Forderung erhält viel Zuspruch, braucht aber noch mehr Unterstützung. Mein Abstimmungsverhalten und meine Abstimmungsempfehlung an meine Fraktion wird sich danach richten, wie die Afghanistanpolitik der Bundesregierung insgesamt zu bewerten ist. Bisher ist sie zu halbherzig und reicht nicht aus, um nennenswert zu einem Stopp der Negativentwicklung in Afghanistan beizutragen.
(3) In der Tat hatten wir in Kabul in der Botschaft ein gutes Gespräch mit Dr. Aminzay, dem Vorsitzenden der Anfang Mai gebildeten Friedens-Jirga. Dass dieses Gespräch in dem WN-Artikel keine Erwähnung findet, liegt nicht zuletzt an der großen Zahl meiner GesprächspartnerInnen: Von ca. 100 waren knapp 40, die man ausdrücklich als gesellschaftliche Friedenskräfte bezeichnen kann. Zum Beispiel der Direktor des seit 2003 arbeitenden, von der Böll-Stiftung und Swiss-Peace unterstützten Tribal Liaison Office, z.B. der Vorsitzende eines Zusammenschlusses von mehr als 100 zivilgesellschaftlichen Organisationen, z.B. Vertreterinnen von Frauenorganisationen, Menschenrechtsaktivistinnen, Friedensfachkräfte.
Umfassend werde ich in meinem Reisebericht diese Begegnungen schildern, der wie gewohnt auf www.nachtwei.de veröffentlicht wird.
Zuletzt will ich nicht verhehlen, dass ich von meiner inzwischen 11. Afghanistanreise mit vielen konkreten Erkenntnissen, aber auch mit noch mehr Ernüchterung, ja Ratlosigkeit zurückgekommen bin - hinsichtlich der Kernprobleme schlechte Regierungsführung/Korruption und des wachsenden Terrorzustroms aus Pakistan.
Mit herzlichem Dank für Euer
Engagiertes Interesse
Winni Nachtwei