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Winfried Kretschmann
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Frage von Manfred G. •

Frage an Winfried Kretschmann von Manfred G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Kretschmann,

Ich hätte eine Nachfrage zu Ihrer Antwort v. 04.02.2011 zum Thema Grundeinkommen von Dr. Poland.

Sie schreiben:

"Nur in einer hoch integrierten Gesellschaft können die erhofften Effekte des Grundeinkommens wie die Aktivierung und Freilegung von Potenzialen und Ressourcen von Menschen zugunsten der Gesamtgesellschaft wirklich eintreten. Da wir eine solche Gesellschaft noch nicht haben, ist das bedingungslose Grundeinkommen für mich noch ein Zukunftsprojekt."

Seit einigen Tagen beschäftigt mich die Frage, wie wollen Sie diese hoch integrierte Gesellschaft erreichen?

Wenn nicht Schritte auf dem Weg dorthin von der Politik angegangen werden.

Egal welche der etablierten Parteien ich mir anschaue, alle Parteien sind von meinem subjektiven Eindruck her, nur bemüht die Gesellschaft auseinander zu treiben!

Aus meiner Sicht, ist keine der etablierten Parteien bereit für die gesamte Gesellschaft etwas zu tun.

Meine Konkrete Frage!

Welche Schritte sehen Sie als wichtig und richtig an, um diese von Ihnen angesprochene hoch integrierte Gesellschaft, zu erreichen?

Und wann, wenn nicht heute, sollten diese Schritte vollzogen werden.

Mit freundlichen Grüßen

M. Gawron BGE-Befürworter und enttäuschter Wähler

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrter Herr Gawron,

danke für Ihre sehr legitime Nachfrage. Weil mich diese Frage selbst sehr umtreibt und sie auch nicht in wenigen Stichworten abzuhandeln ist, habe ich Ihnen etwas umfangreicher geantwortet. Eine hochintegrierte Gesellschaft ist für mich nur dann zu erreichen, wenn ein Staat mehr ist als der Zusammenschluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Unter der Prämisse zunehmender Pluralität - eine Entwicklung, die ich durchaus positiv sehe - muss es über religiöse, ethnische oder andere Dimensionen von Vielfalt hinaus gemeinsame Werte und Normen geben, die eine Gesellschaft in ihrem Inneren verbindet.

Welche Schritte sind nötig, um diese hochintegrierte Gesellschaft zu erreichen?

Für mich ist die politische Ausgestaltung des Sozialen, für mich sind Bildungs- und Integrationspolitik elementar, um den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft zu befördern. Hier liegt für mich der Hebel für gesellschaftliche Integration in einem umfassenden Verständnis. Wir brauchen ein soziales Gewebe, eine Art sozialen Kitt, damit die verschiedenen Gruppen in unserer Gesellschaft nicht auseinanderdriften und sich gegeneinander abschotten, sondern zusammenwachsen und sich alle als Teil derselben Gesellschaft begreifen. Für mich gehören Integrations-, Sozial-, und Bildungspolitik zusammen, wir müssen diese Bereiche viel mehr gemeinsam denken als bisher.

Die Politik muss jetzt sofort soziale Gerechtigkeit nicht nur als Leerformel benutzen, sondern über konkrete Maßnahmen wie z.B. die grüne Kindergrundsicherung, eine Neugestaltung von Hartz IV (die Grünen lehnen den aktuellen Kompromiss ab), eine aktivere Arbeitsmarktpolitik, aber auch eine bessere Kinderbetreuung die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft aufhalten.

Die Schere zwischen arm und reich geht bei uns immer weiter auf. In Deutschland hat sich diese Kluft in den letzten Jahren viel mehr vergrößert als in anderen Industrieländern. Dieser Befund ist erschreckend! Das reichste Zehntel der Bundesbürger etwa besitzt allein 60 Prozent aller Geld- und Sachwerte wie Immobilien oder Unternehmenskapital. Dagegen haben mehr als ein Viertel der Menschen in Deutschland gar kein Vermögen. Auch im wohlhabenden Baden-Württemberg nimmt die Armut seit vielen Jahren zu.

Ich halte es für einen Skandal, dass in unserem reichen Bundesland jedes 6. Kind in Armut lebt. Allein 170.000 Kinder und Jugendliche leben in Baden-Württemberg von Hartz IV. Was bedeutet das für diese Kinder? Es bedeutet einen Mangel an fundamentalen Entwicklungs- und Teilhabechancen. Es bedeutet benachteiligt zu sein in der sozialen Entwicklung, es bedeutet weniger Selbstwert und eine geringere Selbstachtung. Und der Zusammenhang aus Bildungschancen und sozialer Herkunft, den die CDU mit ihrem Bildungssystem weiter zementiert, lässt diese Kinder dauerhaft zurück.
Unser Ziel ist es, diesen Zusammenhang aus sozialer Herkunft und Bildungschancen auflösen. Wir können es uns gar nicht leisten, auch nur ein Kind zurückzulassen. Im Bund setzen wir uns für eine eigenständige Kindergrundsicherung ein. Und wir werden hier im Land die Betreuungs- und Bildungsangebote für Kleinkinder und Kinder ausbauen.

Es kann nicht sein, dass in Baden-Württemberg ein Drittel aller Alleinerziehenden von Armut bedroht ist, weil Beruf und Erziehung nicht zu vereinbaren sind. Wenn Kinder haben gleich Armut bedeuten, dann hat die Politik der CDU im Kinderland Baden-Württemberg komplett versagt! Auch darf es Armut trotz Arbeit in unserem reichen Land nicht geben. Tausende Menschen in Deutschland haben kein Geld für die nötigsten Dinge - obwohl sie Vollzeit arbeiten. Warum ist in Deutschland unmöglich, was fast alle europäischen Staaten schon längst haben? Eine angemessene Bezahlung ist auch eine Frage der Menschenwürde. Wer arbeitet, muss von dem Geld leben können, das er verdient. Es geht nicht, dass Arbeitgeber versuchen, sich auf Kosten der Allgemeinheit vor der Zahlung eines angemessenen Lohns zu drücken und das Arbeitslosengeld II als Kombilohn missbrauchen. Es kann nicht sein, dass Beschäftigte mit ihren Steuern die Hungerlöhne in ihren Konkurrenzbetrieben subventionieren! Wir Grüne werden einen Mindestlohn durchsetzen, wie es ihn in den meisten Ländern Europas bereits gibt.

Eine aktive Integrationspolitik ist ein weiterer Hebel, um eine Gesellschaft zusammenwachsen zu lassen. Allerdings sind in letzter Zeit die tiefen Gräben zwischen Politik und Zivilgesellschaft, der große Vertrauensverlust in die Politik offenbar geworden und zwingen die Politik spätestens jetzt erneut zum Nachdenken: was verbindet unsere Gesellschaft? Und wie können diese Gräben zugeschüttet und Brücken darüber gebaut werden? Die Antworten liegen für mich auf der Hand: Neue Formate der Kommunikation/ Bürgerbeteiligung müssen entwickelt werden. Aus Betroffenen müssen wieder Beteiligte werden! Das ist eine entscheidende Vorbedingung erfolgreicher und planbarer Politik. Dies gilt für mich vor allem auch in der Integrationspolitik.

Miteinander in Respekt zu sprechen, Ton und Haltung sind, wenn es um Integration geht, keine Nebensache, sondern das Fundament einer erfolgreichen Integrationspolitik. Nur so kann ein „Wir“ – Gefühl entstehen. Ich möchte an dieser Stelle ein Mitglied der Landesregierung zitieren und dessen Antwort auf eine Frage von Schülern mit Migrationshintergrund, was denn Integration bedeuten würde: „“Integration heißt, man muss sich mit dem Staat, in dem man lebt identifizieren, man muss Teil des Staates sein wollen und denken wie ein Deutscher“ und „Der perfekte Einwanderer ist gut ausgebildet, er will arbeiten und zwar mehr als die übliche Vierzig-Stunden Woche“. Mit solchen Äußerungen und mit dieser Tonlage sind wir von einem Wir-Gefühl und einem Zusammenwachsen noch meilenweit entfernt. Meine integrationspolitische Leitidee lautet: Integration durch Vorbilder!
Mehr Migrantinnen und Migranten müssen in die Lehrerzimmer und in die Schulen! Mehr Migranten im öffentlichen Dienst, bei der Polizei und bei der Feuerwehr. Auch des Tempo, mit dem Integrationspolitik bislang betrieben wird, muss sich ändern. Ich nenne hier nur ein Beispiel, dass mir persönlich sehr am Herzen liegt: Gemeinsam mit meiner Fraktion habe ich bereits im Jahr 1999 die Einführung des islamischen Religionsunterrichts sowie die Errichtung eines Lehrstuhls für islamische Theologie in Baden-Württemberg gefordert. Erfreulicherweise sind beide Themen heute, 11 Jahre später, auf dem Weg bzw. wird die Universität Tübingen einen islamischen Lehrstuhl einrichten. Aber erst nach 11 Jahren des Stillhaltens und Abwehrens.

Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik sowie eine neue Art der Bürgerbeteiligung sind für mich die Schritte hin zu einer hochintegrierten Gesellschaft und damit die entscheidenden Hebel in Richtung Verwirklichung des Grundeinkommens.

Mit freundlichen Grüßen

Winfried Kretschmann

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