Frage an Willi Piecyk von Ralf K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Piecyk,
da Sie dem Lissabon-Vertrag leider zugestimmt haben, muss ich auch Ihnen einige Fragen stellen:
1. Wie ist es aus Ihrer Sicht mit demokratischen Grundregeln vereinbar, dass Parlamentarier, die nur durch eine Minderheit der Wählerschaft bestätigt wurden (57% Wahlboykott in 2004), für sich beanspruchen, im Namen des gesamten deutschen Volkes nationale Souveränität an EU-Gremien abgeben zu können?
2. Sollten nicht derart gesellschaftsverändernde Vereinbarungen, wie sie der Lissabon-Vertrag enthält, durch das Volk bestätigt werden, zumal dann, wenn, wie in diesem Fall, die EU-Parlamentarier eben NICHT durch die Mehrheit der Wähler hierzu legitimiert wurden?
3. Wenn im Vorfeld des Ratifizierungsprozesses Regeln vereinbart wurden, die eine Zustimmung ALLER EU-Mitgliedsländer zu diesem Machwerk zwingend erforderlich machen, ist es dann nicht unwürdig, das Votum der letzten auf das Volk hörenden Insel Europas zu missachten und den Prozess gegen den allgemeinen Volkswillen durchpeitschen zu wollen?
Dass es sich bei den Iren um keinen Einzelfall handelt, zeigt eine aktuelle Umfrage der "Welt": http://www.welt.de/
Schlussbemerkung: Wie kann irgendjemand auch nur im geringsten erwarten, dass eine EU, die zweifelsfrei auch positive Ansätze hat, vom Volk akzeptiert wird, wenn man dessen Willen in entscheidenden Punkten missachtet und mit Füssen tritt?
Gehen Sie bitte in sich und treten Sie zukünftig für ein demokratisch legitimiertes Europa ein!
Mit freundlichem Gruß
Ralf Kulikowsky
Sehr geehrter Herr Kulikowsky,
herzlichen Dank für Ihre Anfrage. Zunächst einmal: Ihre Fragen wurden gerade zu großen Teilen von meinem Kollegen Udo Bullmann beantwortet, ich kann mich seinen Ausführungen nur anschließen.
Wenn ich Ihre Fragen lese, werde ich den Verdacht nicht los, dass es Ihnen gar nicht um Antworten geht, denn Sie beantworten sie durch Ihre Fragen für sich bereits selbst. Das ist Ihr gutes Recht, bringt uns aber nicht wirklich weiter.
In Frage 1 stellen Sie die Legitimität der demokratischen Grundregeln nach dem Grundgesetz in Frage. Nach unserem Grundgesetz sind wir eine repräsentative Demokratie - mit Wahlrecht - keiner Wahlpflicht - mit allen Folgen für mögliche Mehrheiten.
Zur Erinnerung: Adenauer wurde mit einer Stimme Mehrheit - seiner eigenen - zum Kanzler gewählt. Wäre ich damals wahlberechtigt gewesen, hätte mir das ganz schön gestunken.
Bei den "Mehrheiten" eine kleine rhetorische Rückfrage. In Irland haben am Referendum 45 Prozent der Stimmberechtigten teilgenommen. Davon haben 53,4 Prozent mit Nein votiert. Wenn diese Relationen Sie zufrieden stellen, ist auch das Ihr gutes Recht.
Jetzt noch mal zum Grundsatz: Ich habe dem Lissabon-Vertrag nicht "leider" sondern aus Überzeugung zugestimmt. Vergleichen Sie doch mal:
- Wenn ich die Wahl habe in Europa mehr Demokratie durchzusetzen, bin ich für Lissabon.
- Wenn es möglich ist, die nationalen Parlamente stärker in europäische Prozesse einzubeziehen, bin ich für Lissabon.
- Wenn die Möglichkeit besteht in der EU mehr Bürgerbeteiligung zu realisieren, bin ich für Lissabon.
- Wenn es möglich ist, die EU und ihre Entscheidungsprozesse durchschaubarer zu machen, bin ich für Lissabon.
- Wenn es möglich ist, die EU handlungsfähiger zu machen - nach innen und nach außen, bin ich für Lissabon.
Bei allen Vergleichen zwischen dem jetzigen Zustand der EU und Veränderung durch den neuen Vertrag, schneidet Lissabon gut ab.
Mein Eindruck ist, es geht gar nicht um den Vertrag. Wenn in Irland bei den Nein-Sagern überwiegend Frauen, junge Leute, sozial Schwache waren, und das wahrscheinlich im übrigen Europa ähnlich gesehen wird, dann reicht Lissabon nicht aus. Lissabon ist eine institutionelle Antwort. Was wir brauchen ist eine soziale Antwort, aber danach haben Sie gar nicht gefragt.
Mit freundlichen Grüßen,
Willi Piecyk