Frage an Veronika Bellmann von René B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Werte Frau Bellmann,
ich sehe meine Recht auf vertrauliches Lesen und Schreiben im Internet vor dem Hintergrund der Debatte um die Vorratsdatenspeicherung als gefährdet an. Anonymes Surfen im Internet sollte auch in einer Demokratie nicht verwehrt werden.
Nach der Sommerpause steht die Entscheidung über den Gesetzentwurf an - es geht um die Vorratsdatenspeicherung. Diese würde Internet-Zugangsanbieter wie z.B. Coffee-Shops mit WLAN-Zugang oder öffentliche Büchereien und jede andere Person, die einen Zugang zum Internet zur Verfügung stellt, zwingen, riesige und kostenintensive Datenbanken mit hoch sensiblen Informationen zu erstellen, zu pflegen und diese vor ungesicherten Zugriff zu sichern. Gerade der letzte Punkt stellt wohl eher ein Ding der Unmöglichkeit da.
Die erhobenen Daten könnten auch von Rechteinhabern abgefragt werden, wie etwa der Musikindustrie zwecks Identifizierung von Tauschbörsennutzern. Niemand könnte überprüfen, ob jede einzelne abgefragte IP-Adresse tatsächlich auf Grund eines schweren Gesetzesverstoßes abgefragt wurde, oder ob der Internetnutzer selbst missbräuchlich, zu ganz anderen Zwecken, identifiziert werden soll.
Dieser Prozess ist offensichtlich weder transparent noch datenschutzrechtlich akzeptabel. An dieser Stelle weise ich noch einmal darauf hin, dass ich, in einer Demokratie, anonymes und somit vertrauliches Lesen und Schreiben für fundamental und notwendig erachte - es stellt geradezu ein Bürgerrecht da.
Ich möchte mich, vor dem hier skizzierten Hintergrund, noch einmal entschieden gegen die Vorratsdatenspeicherung aussprechen. Ich empfinde diesen Prozess als zutiefst undemokratisch und einen Angriff auf meine Bürgerrechte. - Eine Rechtsabwägung zu Ungunsten der Demokratie, des Datenschutzes und der Bürgerrechte, zu Gunsten von Rechteinhaber und angeblichen sicherheitspolitischen sogenannten "Verbesserungen" halte ich für unangemessen und geradezu absurd!
Ich bitte Sie zu dieser Problematik hier Stellung zu beziehen.
Sehr geehrter Herr Becker,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 1. August 2011, mit der Sie sich zur Diskussion um die gesetzliche Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung äußern.
Erlauben Sie mir zunächst, allgemein auf Folgendes hinzuweisen: Die Rechtspolitik bewegt sich im Bereich der Telekommunikationsüberwachung in einem Spannungsfeld. Dem Grundrechtsschutz der Bürger steht die ebenfalls verfassungsrechtlich gebotene Pflicht des Staates zu einer effektiven Strafverfolgung gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des staatlichen Gemeinwesens hervorgehoben (BVerfGE 107, 299, 316 m. w. N.). Grundrechtsschutz der Bürger und Strafverfolgungsinteresse des Staates müssen deshalb in einen vernünftigen Ausgleich gebracht werden.
Die sogenannte Vorratsdatenspeicherung ist ein Ermittlungsinstrument, das für die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten unabdingbar ist. In der Diskussion hierüber wird vielfach übersehen, dass bereits nach der gegenwärtigen Rechtslage Telekommunikationsunternehmen Verbindungsdaten (Verkehrsdaten) zu Abrechnungszwecken speichern dürfen. Gesprächsinhalte dürfen insoweit nicht gespeichert werden. Über diese Daten haben die Telekommunikationsunternehmen nach den Vorschriften der Strafprozessordnung den Strafverfolgungsbehörden Auskunft zu erteilen, wenn es um die Verfolgung schwerer Straftaten geht. Die Anordnung der Erteilung einer Auskunft ist an strenge rechtsstaatliche Voraussetzungen (u. a. konkreter begründeter Verdacht, keine anderweitige Möglichkeit der Aufklärung, Richtervorbehalt) geknüpft. Dieses Instrument der Verbindungsdatenabfrage hat sich in der Vergangenheit als unverzichtbar bei der Bekämpfung und Aufdeckung schwerer Kriminalität erwiesen. Mit der stetigen Zunahme sogenannter „Flatratetarife“, bei denen eine Speicherung von Verbindungsdaten zu Abrechnungszwecken durch die Telekommunikationsunternehmen nicht mehr erforderlich war, drohte es mehr und mehr seine Wirksamkeit zu verlieren. Die Möglichkeit, alleine durch Nutzung solcher Flatratetarife, Strafverfolgungsmaßnahmen zu erschweren oder zu vereiteln, dürfte insbesondere der organisierten Kriminalität nicht verborgen geblieben sein. Deshalb war es erforderlich, eine entsprechende Speicherungsverpflichtung der Telekommunikationsunternehmen, unabhängig davon, ob diese Daten zu Abrechnungszwecken benötigt werden, gesetzlich festzulegen. Keineswegs geht es indes darum, jeden Internet- oder Telefonnutzer wie einen Straftäter zu behandeln.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 2. März 2010 auch nicht die Vorratsdatenspeicherung als solche, sondern nur deren konkrete Ausgestaltung für verfassungswidrig erklärt. Die gesetzgeberische Grundentscheidung, dass in bestimmten Fällen schwerwiegender Straftaten ein Eingriff in das Fernmeldegeheimnis aus Art. 10 GG möglich ist, hat es hingegen bestätigt. Es hat auch zugestanden, dass die Vorratsdatenspeicherung und der darauf gründende Verkehrsdatenabruf zur Aufklärung solcher Straftaten erforderliche und geeignete Ermittlungsinstrumente sind. Da das Gericht in seinen Urteils-gründen für die Korrektur der Regelungen klare Vorgaben gemacht hat, kann und muss aus Sicht von CDU und CSU zügig nachgebessert werden.
Die gegenwärtige Situation, in der die Vorratsdatenspeicherung zur Strafverfolgung oder Gefahrenabwehr gar nicht mehr eingesetzt werden kann, halte ich für nicht hinnehmbar. Von den kritischen Kommentaren aus Fachkreisen sei hier nur auf die Stellungnahme des Bundes Deutscher Kriminalbeamter vom
2. März 2010 hingewiesen. Dort wird unter anderem befürchtet, dass das Recht und der Anspruch des Bürgers, nicht Opfer einer Straftat zu werden, erheblich reduziert werden. Das Urteil schütze den Täter, der sich der elektronischen Kommunikation bediene. Auch der Deutsche Richterbund und die Generalstaatsanwälte aller Länder halten den gegenwärtigen Zustand für nicht länger tolerierbar. Schließlich hat auch der Präsident des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, erst jetzt wieder betont, dass in Deutschland ohne die Vorratsdatenspeicherung eine reale Sicherheitslücke besteht, die schleunigst geschlossen werden muss. Wir sind als CDU/CSU-Fraktion nicht bereit, uns dem Vorwurf auszusetzen, durch gesetzgeberisches Unterlassen die Sicherheit der Menschen zu gefährden.
Zudem schreibt auch die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung (Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt und verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG) die Vorratsdatenspeicherung vor. Diese Richtlinie verpflichtet alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union, entsprechende innerstaatliche gesetzliche Vorschriften zu erlassen. Infolge des oben angesprochenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts gibt es aber derzeit keine gültigen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie mehr. Die
EU-Kommission hat Deutschland mit Schreiben vom 16. Juni 2011 daher für die Untätigkeit in dieser Sache nunmehr förmlich gerügt und die Bundesregierung aufgefordert, sich binnen zwei Monaten zu diesem Vorhalt zu äußern. Wir befinden uns damit unmittelbar vor einem Vertragsverletzungsverfahren, welches Deutschland teuer zu stehen kommen kann.
Ich hoffe, dass ich Ihnen mit meinem Schreiben vermitteln konnte, dass mir die Sicherheit unseres Landes und der Bürger sehr wichtig ist. Jedoch ist unsere Demokratie mit ihren Grundrechten zu schützen, sodass es wichtig und richtig ist, die Vorratsdatenspeicherung und die Auskunft über gespeicherte Daten an strenge rechtsstaatliche Voraussetzungen zu binden.
Mit freundlichen Grüßen
Veronika Bellmann