Frage an Ursula Heinen-Esser von Hendrik G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Heinen-Esser,
Die Deutsche Industrie und Handelskammer betreibt aktive Lobbyarbeit um vermeintliche Interessen der Wirtschaft durchzusetzen. Als Unternehmer bin ich verpflichtet Beiträge an die IHK zu entrichten. Auch wenn mein Unternehmen von bestimmten Zielsetzungen der IHK unter Umständen profitiert, bezweifle ich häufig deren Sinn für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung. Als zahlungspflichtiges Zwangsmitglied der IHK bin ich somit nach derzeitiger Gesetzeslage verpflichtet politische Lobbyarbeit zu unterstützen, deren Zielsetzung meiner persönlichen politischen Auffassung widerspricht.
Wie lässt sich die derzeitige Gesetzeslage zur Zwangsmitgliedschaft in einer politischen Organisation Ihrer Meinung nach mit Grundsätzen einer freien, demokratischen Gesellschaft vereinbaren? Und falls Sie hier ebenfalls Probleme erkennen, welche Maßnahmen sind in Ihrer Partei geplant um diesen Umstand zu verbessern?
Sehr geehrter Herr Göbel,
vielen Dank für Ihre Frage vom 23. Juni 2013 zur Pflichtmitgliedschaft bei Ihrer IHK und zur Frage der Notwendigkeit einer Änderung der gesetzlichen Vorschriften.
Sie sprechen eine komplexe Frage an, deshalb gestatten Sie mir, etwas weiter auszuholen: Den Kammern gehören in Deutschland kraft Gesetz alle natürlichen und juristischen Personen an, die im Kammerbezirk eine gewerbliche Niederlassung, eine Betriebsstätte oder Verkaufsstelle unterhalten, sofern sie zur Gewerbesteuer veranlagt werden (Pflichtmitgliedschaft). Pflichtmitglieder sind auch Kleinunternehmer und Nebenerwerbsbetriebe, falls der gewerbliche Charakter dieser Betriebe nicht fraglich ist. Diese Pflichtmitgliedschaft ist vom Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt worden. Nach Ansicht des Gerichts ist die Pflichtmitgliedschaft hinnehmbar, weil sie für die Kammerzugehörigen eine Chance zur Beteiligung und Mitwirkung an staatlichen Entscheidungsprozessen eröffnet. Die Pflichtmitgliedschaft hat überdies nach den Ausführungen des Gerichts eine freiheitssichernde und legitimatorische Funktion, weil sie auch dort, wo das Allgemeininteresse einen gesetzlichen Zwang verlangt, die unmittelbare Staatsverwaltung vermeidet und stattdessen auf die Mitwirkung der Betroffenen setzt. Das Gericht hat allerdings auch herausgestellt, dass die Industrie- und Handelskammern die Grenzen ihrer Aufgaben beachten müssen:
„In der industriellen Gesellschaft … ist es naheliegend und jedenfalls von der Verfassung her unbedenklich, dass der Staat die Förderung der Wirtschaft im weitesten Sinne zum Rang einer besonders wichtigen Staatsaufgabe erhebt. Es kann ihm nicht verwehrt sein, sich bei der Erfüllung dieser Aufgabe der Hilfe von Organen zu bedienen, die … damit an der Erfüllung einer echten Staatsaufgabe teilnehmen. Die Vertretung der gewerblichen Wirtschaft gegenüber dem Staat stellt nicht … reine Interessenvertretung dar. Die … Parallele zu den Fachverbänden übersieht, dass diese primär die Interessen der Wirtschaftszweige vertreten…. Demgegenüber ist es den Industrie- und Handelskammern gesetzlich zur Pflicht gemacht, stets das Gesamtinteresse der gewerblichen Wirtschaft im Auge zu behalten. Wäre der Beitritt freiwillig, so hinge die Zusammensetzung der Mitgliedschaft vom Zufall ab. Die Kammern wären auf Werbung angewiesen. Finanzstarke Mitglieder würden sich in den Vordergrund schieben und mit Austrittsdrohungen die Berücksichtigung ihrer Sonderinteressen zu erzwingen versuchen…“ (Bundesverfassungsgericht vom 19.12.1962)
Damit wurde klargestellt (siehe Hervorhebung im Text), dass die Kammern im Gegensatz zu reinen Lobby-Verbänden vor allem die Aufgaben der Selbstverwaltung und des Interessenausgleichs erfüllen. Diese Haltung hat das Bundesverfassungsgericht am 07.12.2001 nochmals bestätigt. Um dies zu veranschaulichen, lohnt der Blick auf die von den Industrie- und Handelskammern wahrgenommenen hoheitlichen Aufgaben. Dies sind unter anderem die
• Abnahme von Prüfungen bei der Berufsbildung
• Registrierung von Öko-Standorten
• Vereidigung von Sachverständigen
• Durchführung gutachterlicher Tätigkeiten
• Ausstellung von Ursprungszeugnissen und Carnets
• Mitwirkung bei der Bestellung von Handelsrichtern
• Mitwirkung bei den Handelsregistereintragungen
Die gesetzliche Mitgliedschaft erwächst aus dieser Delegation von staatlichen Aufgaben an die Wirtschaft und findet darin ihre rechtsstaatliche Legitimation. Die Erfüllung öffentlicher Pflichten bedeutet auch eine effiziente Entbürokratisierung. Der Wegfall der gesetzlichen Pflichtmitgliedschaft und der hoheitlichen Aufgaben würde zwangsläufig eine Aufgabenwahrnehmung durch den Staat selbst bedeuten. Dies hätte zu Folge, dass staatliche Regulierung und Zentralisierung zunehmen würden, z.B. in Form von neuen Behörden – bei gleichzeitigem Verzicht auf die Sachkompetenz der Wirtschaft und Verzicht auf den Einsatz von Ehrenamtlichen z.B. in Prüfungsausschüssen. Gerade die Interessenwahrnehmung der kleinen und mittleren Betriebe würde darunter deutlich leiden. Deshalb hält die Bundesregierung an der IHK-Pflichtmitgliedschaft fest, hat aber auch erklärt, dass sie die Problematik weiter beobachten wird.
Mit freundlichen Grüßen
Ursula Heinen-Esser