Frage an Udo Bullmann von Uwe H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Dr. Bullmann,
auch ich würde mich freuen, wenn sie mir helfen könnten den Lissaboner Vertrag besser zu verstehen. Über die Beantwortung der folgenden Fragen würde ich mich freuen.
Im Folgenden meine Fragen an Sie.
1.Wie wird die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes nach Inkrafttreten des Vertrages aussehen?
2.Was zählt meine Stimme?
3.Wen wähle ich zukünftig und welche Befugnisse haben die von mir mitgewählten Personen im politischen Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozess?
4.Wer hat das Vorschlagsrecht für Gesetzesentwürfe und wer beschließt diese?
5.Was geschieht wenn das Parlament einem Gesetz nicht zustimmt? Darf die EU nun wirklich selbst Steuern erheben?
6.Wenn ja, werden diese zusätzlich zu den bisherigen Steuern erhoben oder nicht?
7.Wer kontrolliert die Fiskalpolitik der EU?
8.Was bedeutet das für Deutschland, wenn die EU rechtsgültige Verträge schließen darf, die für alle Staaten binden sind?
9.Handelt es sich nicht um eine Quasi-Abschaffung des Nationalstaates und um eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes?
Vorab schon einmal vielen Dank für die freundliche Beantwortung meiner Fragen.
Mit freundlichen Grüßen (Mitglied der SPD)
Uwe Heine
Sehr geehrter Herr Heine,
ich bedanke mich für die Anfrage. Gerne beantworte ich Ihre Fragen zum Vertrag von Lissabon. Ich bitte um Verständnis, dass die Bearbeitung mehr Zeit als üblich in Anspruch genommen hat, da ich im Vorfeld der Europawahlen derzeit viele Bürgeranfragen erhalte.
1. Wie wird die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes nach Inkrafttreten des Vertrages aussehen?
Durch den Vertrag von Lissabon findet ein Machttransfer zugunsten des Europäischen Parlaments statt - nicht nur von Deutschland nach Europa, sondern vor allem innerhalb der EU-Institutionen, von der Exekutive (EU-Ministerrat) hin zur Legislative (Europäisches Parlament). Das Europäische Parlament, aber auch die nationalen Parlamente spielen damit in der europäischen Gesetzgebung eine größere Rolle.
Das Grundgesetz und die Verfassungsorgane bleiben von diesen Regelungen unberührt. Artikel 4 des Vertrags von Lissabon legt fest, dass die EU nicht nur die nationale Identität der Mitgliedsländer achten muss, sondern auch deren Verfassungsidentität. Demzufolge entsteht nicht - wie oft fälschlich behauptet - eine europäische Oberverfassung, noch wird das Bundesverfassungsgericht durch Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags entmachtet.
2. Was zählt meine Stimme?
Ihre Stimme zählt soviel wie die jedes anderen deutschen Wählers beziehungsweise jeder anderen deutschen Wählerin. Bei den Europawahlen am 7. Juni 2009 haben die Bürgerinnen und Bürger die Wahl: wollen sie ein marktradikales Europa, das rücksichtslos auf Deregulierung und die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten setzt, oder wollen sie ein soziales Europa, das sich den globalen Problemen des 21. Jahrhunderts stellt und die Sorgen und Nöte der Menschen ernst nimmt. Nur mit einer starken sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament wird es gelingen, den EU-Binnenmarkt endlich mit ausreichenden sozialen Rechten zu flankieren. Deshalb kommt es am 7. Juni auf jede Stimme an.
3. Wen wähle ich zukünftig und welche Befugnisse haben die von mir mitgewählten Personen im politischen Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozess?
In den Wahlen zum Europäischen Parlament wählen Sie auf nationaler Ebene die Kandidaten, die von den nationalen Parteien für das Europäische Parlament aufgestellt werden. Die Befugnisse der Europaabgeordneten bei der politischen Willensbildung sind vergleichbar mit der Rolle der Bundestagsabgeordneten, bei einigen Unterschieden, die den Ablauf der Gesetzgebung betreffen. Die Rolle des Europäischen Parlaments würde durch den Vertrag von Lissabon gestärkt werden, insbesondere durch die Ausweitung des Verfahrens der Mitentscheidung, bei dem das EU-Parlament auf Augenhöhe mit dem EU-Ministerrat Gesetzgebung betreibt.
4. Wer hat das Vorschlagsrecht für Gesetzesentwürfe und wer beschließt diese?
Die EU-Kommission hätte nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags auch weiterhin in den meisten Politikbereichen das alleinige Initiativrecht. Ausnahmen gibt es im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie im Bereich Justiz und Inneres. Beispielsweise würde sich die EU-Kommission auch künftig das Initiativrecht im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung mit den Mitgliedstaaten teilen. Stimmen mindestens ein Viertel der Mitgliedstaaten zu, können diese einen eigenen Gesetzesvorschlag einbringen.
Das EU-Parlament hat allerdings ein politisches Initiativrecht, das heißt es kann die EU-Kommission auffordern, einen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Darüber hinaus prüft das Europäische Parlament das jährliche Arbeitsprogramm der EU-Kommission und weist auf die Rechtsakte hin, die aus seiner Sicht erforderlich sind. Der Vertrag von Lissabon sieht darüber hinaus die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens vor. Mit einer Million Unterschriften können die Bürgerinnen und Bürger die EU-Kommission auffordern, zu einem konkreten Thema, das in ihre Zuständigkeit fällt, aktiv zu werden.
Das Europäische Parlament und der EU-Ministerrat sind in der Regel gleichberechtigte Gesetzgeber. Das heißt, dass der Vorschlag der EU-Kommission von den beiden Institutionen im Rahmen der Mitentscheidung gemeinsam bearbeitet und bei Zustimmung beider Häuser verabschiedet wird.
5. Was geschieht, wenn das Parlament einem Gesetz nicht zustimmt?
Wenn das Europäische Parlament einem Gesetz nicht zustimmt und auch ein Vermittlungsausschuss zwischen dem EU-Ministerrat und dem Europäischen Parlament nicht zu einem Kompromiss findet, ist der Gesetzentwurf gescheitert.
6. Darf die EU nun wirklich selbst Steuern erheben? Wenn ja, werden diese zusätzlich zu den bisherigen Steuern erhoben oder nicht?
Nein, die EU selbst darf keine Steuern einführen und erheben. In diesem Bereich hat sie keine Zuständigkeit.
Es ist jedoch wichtig, dass der Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten auf dem Binnenmarkt nicht durch zu unterschiedliche Steuersätze und -regelungen verfälscht wird. Zu diesem Zweck koordinieren die Mitgliedstaaten auf EU-Ebene beispielsweise die indirekten Steuern, die auf die Erzeugung und den Verbrauch von Gütern entfallen (z.B. Mehrwertsteuer und Verbrauchsteuern). Hier besteht jedoch noch Handlungsbedarf. Besonders die großen Unterschiede bei der Besteuerung von Unternehmen führen zu einem schädlichen Wettlauf nach unten. Diesen sollte man durch eine weitergehende Koordinierung abwenden.
7. Wer kontrolliert die Fiskalpolitik der EU?
Die Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion sind in ihrem Handeln an die von ihnen festgelegten Kriterien des Stabilitäts- und Wachstumspakts gebunden (z.B. Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite). Die EU-Kommission wacht darüber, dass die von den Mitgliedstaaten gemeinsam vereinbarten Regelungen eingehalten beziehungsweise überall umgesetzt werden.
8. Was bedeutet das für Deutschland, wenn die EU rechtsgültige Verträge schließen darf, die für alle Staaten bindend sind?
Das letzte Wort über die Verträge würden auch nach wie vor die nationalen Regierungen und Parlamente haben. Die EU kann nur in den Bereichen rechtsgültige, bindende Verträge schließen, für die ihr von den Mitgliedstaaten die Zuständigkeit übertragen wurde. Der Vertrag von Lissabon würde hier keine Änderung herbeiführen: Die Europäische Union ist "keinesfalls ermächtigt, über die ihr von den Mitgliedstaaten in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten hinaus gesetzgeberisch tätig zu sein oder über diese Zuständigkeiten hinaus zu handeln." (Vertrag von Lissabon, Erklärung zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union)
9. Handelt es sich nicht um eine Quasi-Abschaffung des Nationalstaates und um eine Außerkraftsetzung des Grundgesetzes?
Nein, die Nationalstaaten bestehen fort. Aber allein kann keiner der 27 EU-Mitgliedstaaten die globalen Herausforderungen wie die aktuelle Wirtschaftskrise oder den Klimawandel bewältigen. Der Vertrag von Lissabon ist kein Selbstzweck, sondern sichert die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU auf der Grundlage der Werte wie sie in der Grundrechtecharta und gegenwärtig schon in dem Artikel 6 ("Grundlagen der Union, nationale Identität, Menschenrechte, Mittelausstattung") festgeschrieben sind. Gegenüber den USA oder aufsteigenden Mächten wie China können einzelne europäische Staaten langfristig weder politisch noch wirtschaftlich bestehen. Dies geht nur in einer starken europäischen Gemeinschaft.
Im deutschen Grundgesetz ist die sogenannte "arbeitsteilige Ausübung der Souveränität" bereits vorgesehen. Deutschland überträgt freiwillig Zuständigkeiten an die EU. Der Lissabon-Vertrag respektiert die Rolle der Nationalstaaten und setzt auch das Grundgesetz nicht außer Kraft.
Ich hoffe, diese Informationen helfen Ihnen weiter.
Mit freundlichen Grüßen,
Udo Bullmann