Die Polizeigewerkschaft wirft der Politik vor, mit der Impfpflicht gesellschaftliche Konflikte anzuheizen. Der Rechtsstaat werde in nie gekannter Weise herausgefordert. Teilen Sie das?
Sehr geehrter Herr G.,
vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne beantworte. Ihre sehr verkürzte Darstellung der Aussagen von Rainer Wendt teile ich nicht.
Herr Wendt spricht zwar davon, dass eine allgemeine Impfpflicht zu einer Verstärkung der Proteste führen könnte. Den Vorwurf des Anheizens äußert er aber nicht. Dies wäre auch grundlegend falsch: Bei der derzeitigen Diskussion um die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen SARS-COV 2 geht es nicht darum, Menschen auszugrenzen. Es geht darum, die rechtliche Grundlage für ein möglicherweise lebensrettendes Instrument zur Bekämpfung einer schweren Infektionskrankheit, die sich rasend schnell ausbreitet, zu schaffen.
Unter den Maßnahmen, die die Ministerpräsidentenkonferenz noch im alten Jahr beschlossen hat, ist unter anderem bereits eine Impfverpflichtung für Angehörige bestimmter Berufsgruppen. Das gilt besonders im Pflegebereich. Die allgemeine Impfpflicht wird im nächsten Schritt zeitnah im Bundestag beraten werden.
Es wäre übrigens nicht das erste Mal, dass wir in Deutschland eine Pflicht zum Impfen einführen. Bis in die 1980er Jahre gab es eine Impfpflicht gegen Pocken, zunächst allgemein, später eingeschränkt auf Kinder bis 12 Jahre. Diese Impfpflicht hat maßgeblich dazu beigetragen, dass der letzte registrierte Pockenfall in Deutschland 1972 aufgetreten ist. Eine Impfpflicht kann also ein durchaus wirksames Mittel zur Bekämpfung einer Infektionskrankheit sein.
Verfassungsrechtlich ist eine Impfpflicht grundsätzlich möglich, wenn es sich dabei um ein zielführendes Mittel handelt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Ich bin der Ansicht, dass wir nun den Punkt erreicht haben, an dem die bisherigen Maßnahmen nachweislich nicht mehr ausreichen. Ohne die Option einer allgemeinen Impfpflicht werden wir die Corona-Situation vermutlich nicht überwinden können. Den nun beginnenden Diskussionen im Parlament sehe ich daher mit der Erwartung entgegen, dass wir in einem transparenten und sachlichen Prozess eine verfassungskonforme und zielführende Lösung finden werden.
Ich werde mir diese Entscheidung nicht leicht machen. Mein Abstimmungsverhalten während der Corona-Pandemie habe ich stets an dem verfassungsrechtlichen Grundsatz orientiert, dass der Staat stets das verhältnismäßig mildeste Mittel anwenden muss, um ein Problem zu lösen. Dementsprechend habe ich in der Vergangenheit eine Impfpflicht eher abgelehnt. Die Entwicklungen der vergangenen Monate haben mich aber zum Umdenken bewegt.
Ich hoffe, dass ich Ihre Frage beantworten konnte und stehe gerne unter thomas.hitschler@bundestag.de für Rückfragen zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Thomas Hitschler